Fegert, Jörg M.
 
Das neue Kindschaftsrecht: Erweiterte Aufklärungspflicht
 
Deutsches Ärzteblatt 97, Ausgabe 1-2 vom 10.01.2000, Seite A-29 / B-25 / C-25
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze


Der Regelfall ist jetzt das gemeinsame Sorgerecht der Eltern. Auch zur Vermeidung von Haftungsrisiken muss sich der Arzt auf die neue Rechtslage einstellen.
 

Zum 1. Juli 1998 traten die meisten Einzelgesetze eines umfassend "Kindschaftsrechtsreform" genannten Reformpaketes in Kraft. Geändert wurden zentrale Bereiche des Familienrechts, des Beistandschaftsgesetzes und des Kindesunterhaltsgesetzes sowie des Eheschließungsgesetzes. Unterschiede aufgrund von Geburt im Erbrecht waren schon zuvor neu geregelt worden. Spezielles Augenmerk muss den neu geregelten Zuständigkeiten im Kinderschutzverfahren gelten, da diese für Ärzte von direkter praktischer Relevanz sind.

Die enormen Fortschritte in der Reproduktionsmedizin haben auch ihren Niederschlag im Familienrecht gefunden. Zum ersten Mal sah sich der Gesetzgeber gezwungen - entgegen dem alten familienrechtlichen Grundsatz "pater incertus est, mater semper certa est" -, der durch die Leihmutterschaft hervorgerufenen Unsicherheit Rechnung zu tragen und zu definieren, wer Mutter eines Kindes ist. Als Mutter des Kindes wird im neuen § 1591 BGB die Frau definiert, die das Kind geboren hat. Ei- und Embryonalspende werden in Deutschland als nicht zulässig angesehen, sind aber prinzipiell nicht verhinderbar. Der neue Paragraph definiert die Mutterschaft durch den Gebärvorgang und soll so die Leihmutterschaft zivilrechtlich vereiteln. Dies führt zu der für den Arzt etwas paradox anmutenden Situation, dass Vaterschaft genetisch aufgrund eines Gutachtens festgestellt werden kann, wohingegen Mutterschaft eben nicht genetisch, sondern durch den Gebärvorgang definiert ist. Dem Zeugungsvorgang wird dabei im neuen Recht durch den Verzicht auf die "Beiwohnungsvermutung" keine zentrale Bedeutung mehr gegeben. Vielmehr wird die Vaterschaft kraft Ehe mit der Mutter angenommen. Diese Definitionsschwierigkeiten rund um die biologische und soziale Elternschaft sind Reflex der gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie der Fortschritte der Reproduktionsmedizin, die bislang unveränderbar geglaubte Tatsachen zu rechtlich definitionsbedürftigen Gegenständen gemacht haben. Das zentrale Merkmal der Kindschaftsrechtsreform ist das Aufgreifen der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Ehe ist nicht mehr die einzige familiale Lebensform. Immer mehr Kinder wachsen mit allein erziehenden Elternteilen auf, die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften nimmt deutlich zu, während die Zahl der Eheschließungen zurückgeht und gleichzeitig die der Scheidungen ansteigt. So genannte PatchworkFamilien sind die Folgen neuer Lebensformen. Insofern war es an der Zeit, über Jahrzehnte vom Bundesverfassungsgericht angemahnte rechtliche Unterschiede zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern abzubauen.

Gemeinsames elterliches Sorgerecht

Nach einer Scheidung erfolgt die Übertragung des alleinigen Sorgerechts nur noch auf Antrag eines Elternteils (§ 1671 BGB). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass im Regelfall die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge wegen der Aufrechterhaltung von Bindungen im Sinne des Kindeswohls ist. Trotz gemeinsamer elterlicher Sorge wird aber das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Wesentlichen bei einem Elternteil haben, was für die ärztliche Behandlung relevante Fragen aufwirft. Nach dem Gesetz (§ 1687 Abs. 1 BGB) ist in Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, gegenseitiges Einvernehmen der Erziehungsberechtigten erforderlich. Das Elternteil, bei dem das Kind sich gewöhnlich aufhält, darf hingegen in Angelegenheiten des täglichen Lebens allein entscheiden. Nach D. Schwab (FamRZ 1998, S. 469) sind Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung im gesundheitlichen Bereich: Operationen (außer in Eilfällen), medizinische Behandlungen mit erheblichem Risiko, grundlegende Entscheidungen der Gesundheitsvorsorge. Zu den Angelegenheiten des täglichen Lebens zählen Behandlungen leichterer Erkrankungen (zum Beispiel Erkältungen), alltägliche Gesundheitsvorsorge, Routineimpfungen.

Nicht zugelassene Medikamente

Brisant wird diese Unterscheidung angesichts der Tatsache, dass in der Kinder- und Jugendmedizin etwa 80 Prozent der angewandten Medikamente "off-label" verschrieben werden. Die Gabe eines nicht zugelassenen Medikamentes kann nicht als Angelegenheit des täglichen Lebens angesehen werden. Bei Verordnung nicht zugelassener Medikamente müssen beide Elternteile aufgeklärt werden. Es muss von beiden eine übereinstimmende Zustimmung vorliegen, die sicherstellt, dass nach hinreichend erfolgter Aufklärung die durch die "off-label"-Behandlung entstehenden Haftungsrisiken, die der Hersteller außerhalb des Indikationsbereiches nicht trägt, nicht auf den Arzt übergehen. Vorschnell könnte man den scheinbar logischen Schluss ziehen, dass in solchen Situationen eben ältere zugelassene Substanzen verwandt werden müssen. Bei einem solchen Vorgehen macht sich der Arzt allerdings im Schadensfall potenziell strafbar. Das Oberlandesgericht Köln hat in seiner Aciclovir-Entscheidung 1991 auf die den Ärzten obliegende Pflicht hingewiesen, ihr "Wissen auf dem neuesten Stand zu halten und sich dementsprechend in akzeptablem Umfang weiterzubilden". Dies umfasse mehr als die Information darüber, ob das Medikament von der zuständigen Bundesbehörde zugelassen sei; die von der Zulassungsbehörde genannte Indikation sei nicht maßgeblich. Vielmehr komme es auf den Stand der medizinischen Erkenntnisse an. Wie die Nichtnennung einer bestimmten Indikation kann auch die Benennung einer Altersgruppe als gegenindiziert dem aktuellen Wissensstand, an dem sich der Arzt zu orientieren hat, hinterherhinken. Da wegen der mangelnden wirtschaftlichen Anreize immer weniger neue Medikamente auch für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen getestet werden, hat sich in der Pädiatrie, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie die "off-label"-Verschreibung vieler Substanzen durchgesetzt. In all diesen Fällen gilt es nun besonders darauf zu achten, dass bei Kindern aus Scheidungsfamilien beide sorgeberechtigten Elternteile ihren Informed Consent erteilen.

Die Ausdifferenzierung zwischen Angelegenheiten des täglichen Lebens und Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung hat der Gesetzgeber nicht detailliert vorgenommen, sondern es der Rechtsprechung überlassen, hier künftig die Grenzen zu ziehen. Für den behandelnden Arzt bedeutet die neue Gesetzeslage, dass er sich bei Kindern geschiedener oder getrennt lebender Eltern nach dem Sorgerechtsstatus erkundigen und die Zustimmung zu weiter reichenden Maßnahmen von beiden Elternteilen einholen muss. Beiden sorgeberechtigten Eltern muss er eine detaillierte Aufklärung anbieten. Ohne Einwilligung gilt der vorgenommene Eingriff als Körperverletzung. Auch nicht verheiratete Eltern können jetzt durch die Abgabe einer Sorgeerklärung (§ 1626 a Abs. 1 Nr. 1 BGB) die gemeinsame elterliche Sorge für das "nichteheliche" Kind festlegen. Insofern muss sich der Arzt auch bei der allein erziehenden Mutter nach den Sorgerechtsverhältnissen erkundigen; denn Voraussetzung für diese Sorgeerklärung ist auch nicht ein räumliches Zusammenleben der Kindeseltern. Neue Zuständigkeiten im Kinderschutz

Nicht selten ergibt sich im Rahmen der Krankenbehandlung eines vernachlässigten, misshandelten oder missbrauchten Kindes die Notwendigkeit, weiter gehende Kinderschutzmaßnahmen einzuleiten. Hier hat die Einführung des "Großen Familiengerichts" dazu geführt, dass alle früheren Vormundschaftssachen nun vor dem Familiengericht verhandelt werden. Dies bedeutet eine Entlastung für den Arzt, der in belastenden Akutsituationen - Eltern drohen zum Beispiel damit, das gefährdete Kind sofort aus dem Krankenhaus zu holen - grundsätzlich davon ausgehen kann, dass die Zuständigkeit beim Familiengericht liegt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Eltern in einer Ehe, getrennt oder in Scheidung leben oder ob das Kind von einer allein erziehenden Mutter erzogen wird. Entscheidungen zum Aufenthaltsbestimmungsrecht oder über den teilweisen oder kompletten Entzug der elterlichen Sorge werden nunmehr allein vom Familiengericht gefällt. Die Erkenntnis, dass in solchen Fällen die Interessen der Eltern und der Kinder erheblich kollidieren können, hat dazu geführt, dass der Gesetzgeber trotz heftiger Widerstände als "Anwalt des Kindes" den Verfahrenspfleger nach § 50 FGG eingeführt hat. Der Verfahrenspfleger soll sicherstellen, dass die Interessen von Kindern in den sie betreffenden Verfahren wahrgenommen werden. Allerdings ist derzeit noch wenig umrissen, wer diese Funktion wahrnehmen kann und wird. Sozialpädagogen haben teilweise Ausbildungscurricula zum Verfahrenspfleger absolviert, doch unter den ersten Ausgebildeten befanden sich auch Psychologen, Ärzte und Juristen. Gerade wenn es um gesundheitlich beeinträchtigte, chronisch kranke oder behinderte Kinder geht, könnten Ärzte mit ihrem fachlichen Sachverstand und einer entsprechenden rechtlichen Zusatzausbildung ehrenamtlich segensreich für das Wohl von Kindern wirken.

Verfahrenspflegern ist der Zutritt im Krankenhaus zu gewähren, da sie die Interessen des Kindes vertreten sollen, gegebenenfalls müssen sie über medizinische Entscheidungen informiert werden. Dies ist für viele Ärzte noch gewöhnungsbedürftig, da die Vielzahl der zu informierenden Personen arztrechtlich neue Fehlerquellen eröffnet. Dabei gilt es nicht zu vergessen, auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst in altersgemäßer Form über die Tragweite von Eingriffen zu informieren, auch wenn diese selbst nicht einwilligungsfähig und durch ihre Eltern oder andere Personen vertreten sind. Auf die Unzulänglichkeit des reinen Informed-ConsentKonzeptes in Bezug auf Kinder und Jugendliche wurde vor kurzem (S. Rothärmel et al., MedR 1999, S. 293) hingewiesen.

Umgang und Besucher

Es ist nicht selten, dass im Krankenhaus sehr schnell von zerstrittenen Elternteilen Wünsche geäußert werden, die den Umgang mit dem anderen Elternteil oder den Großeltern betreffen. Aufgrund der Bedeutung von Bindungen für das Kindeswohl hat sich der Gesetzgeber dazu entschlossen, eindeutige Akzente zu setzen. "Das Kind hat das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt", heißt es nun im § 1684 Abs. 1 BGB, und § 1626 BGB Abs. 3 lautet neu: "Zum Wohle des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen." Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wenn ihre Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist. So erhalten ein begrenztes Umgangsrecht: Großeltern, Geschwister, Stiefeltern und Pflegeeltern. Der Umgang mit diesen Personen muss dem Kindeswohl dienen, es besteht aber derzeit kein Anspruch des Kindes auf Umgang mit diesen Personen, ebenso wenig eine Umgangspflicht dieser Personen. Eine neue Komponente, deren Auswirkungen noch zu wenig abgeschätzt werden können, ist der so genannte begleitete oder geschützte Umgang (§ 1684 Abs. 4 BGB). Die Sätze 3 und 4 lauten: "Das Familiengericht kann insbesondere anordnen, dass der Umgang nur stattfinden darf, wenn ein ,mitwirkungsbereiter Dritter' anwesend ist. Dritter kann auch ein Träger der Jugendhilfe oder ein Verein sein, dieser bestimmt dann jeweils, welche Einzelperson die Aufgabe wahrnimmt." Zentral ist hier die Feststellung, dass der "Dritte" mitwirkungsbereit sein muss. Einzelne freie Träger der Jugendhilfe haben schon differenzierte Angebote des betreuten Umgangs auch in Extremfällen von drohender Kindesentführung oder sexuellem Missbrauch entwickelt. Während einer Krankenbehandlung kann vom Gericht die Intention an das Krankenhaus oder an einen behandelnden Psychotherapeuten herangetragen werden, als "mitwirkungsbereiter Dritter" zu fungieren. Gerade in Bezug auf die drohenden Konflikte zwischen ärztlicher oder psychotherapeutischer Schweigepflicht und den Notwendigkeiten einer verantwortlichen Umgangsbegleitung ist hierbei zur Vorsicht zu raten. Insgesamt bewirkt das neue Kindschaftsrecht eine allgemeine Deregulierung. Die Scheidung wird nicht mehr prinzipiell als Kindeswohlgefährdung angesehen, nicht bei jeder Scheidung kontrolliert das Jugendamt. Genau dies wird aber zum Risiko für die gefährdeten Kinder. Stellt keines der vernachlässigenden Elternteile einen Antrag auf Übertragung der Alleinsorge, sind sich also die Eltern scheinbar einig, ohne dass real für das Kind gesorgt ist, werden diese Fälle in Zukunft vom Gericht primär nicht mehr wahrgenommen werden.

Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-29-31
[Heft 1-2]
 

Das Literaturverzeichnis ist über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich.
 

Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert
Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie/
Psychotherapie
Universität Rostock
Gehlsheimer Straße 20
18147 Rostock
 

Die Zahl der allein erziehenden Frauen und Männer nimmt stetig zu. Gleichwohl müssen bei gemeinsamem Sorgerecht beide Eltern informiert werden.
 

Aus: "Kinder in Scheidungsverfahren nach der Kindschaftsrechtsform", Jörg M. Fegert (Hrsg.), Zeichnung: Philipp Heinisch, Edition "Sprechende Bilder"

Quelle:
http://www.deutsches-aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=20697