Deutschlands Familien sind besser als ihr Ruf

Eine Studie von Trendforschern belegt: Kinder profitieren von mehr Demokratie im häuslichen Umgang

Von Martin Ax

Hamburg ­ Wer unsere Gesellschaft für familienfeindlich hält, unterliegt einer Täuschung. Die Struktur der Familien hat sich zwar verändert. Das heißt aber nicht, daß Familie an sich den Deutschen weniger wichtig geworden ist. Im Gegenteil: Vor allem Kinder nehmen heute einen höheren Stellenwert ein, genießen mehr Freiheit und mehr Einfluß als noch vor 30 Jahren.

Mit dieser These überrascht eine neue Studie, die Wissenschaftler und Trendforscher für die Zeitschrift „Familie & Co" zusammengestellt haben und die am Dienstag veröffentlicht worden ist. Die Täuschung entstehe dadurch, daß eine bestimmte Form von Familie an Bedeutung verloren habe ­ die „standardisierte Normalfamilie", sagte die Mannheimer Professorin Margot Berghaus. Nur noch 28 Prozent der deutschen Familien gehörten zu dieser Form, bei der Vater und Mutter verheiratet sind und mit den gemeinsamen leiblichen Kindern in einem Haushalt leben.

Aus Untersuchungen der Familienforschung rechnete die Soziologin vor, daß derzeit etwa 25 Prozent der Familien aus verheirateten Paaren ohne Kinder bestehen, 13 bis 15 Prozent aus Alleinerziehenden mit Kindern und bereits knapp 10 Prozent aus „Partnerschaften mit Kindern, aber mit getrenntem Haushalt". Dazu kommen Familien ohne Trauschein und „Stieffamilien", in denen Eltern mit Kindern aus mehreren Beziehungen zusammenleben.

Dieser „Pluralismus" der Lebensformen sei darauf zurückzuführen, daß Familie heute eine andere Funktion erfülle. Berghaus: „Früher hieß Familie Einheit, Gemeinschaft, Bindung. Das ,Wir' stand im Mittelpunkt. Heute soll Familie diese Funktion auch erfüllen ­ gleichzeitig aber jedes Familienmitglied bei seiner individuellen Entfaltung unterstützen."

Dieser Wertewandel führe zwar zu neuen Konflikten ­ aber auch zu einer „demokratischen Familie", von der vor allem die Kinder profitierten. Berghaus: „Eltern machen sich heute mehr Gedanken über ihre Kinder. Sie treffen die Entscheidung für Kinder bewußter und versuchen, ihnen Freiraum zu einer kindgerechten Entwicklung zu geben" ­ auch wenn das im Einzelfall nicht immer gelinge.

Den deutlichsten Beleg für diese Thesen sehen Berghaus und ihre Mitautoren in der Art, wie Kauf- und Konsumentscheidungen heute in den Familien getroffen werden. Aus Umfragen zieht die Studie folgendes Fazit: In der Mehrheit der Familien dürfen Kinder und Jugendliche heute über den Kauf von Süßigkeiten, Spielwaren, Kleidung und Kosmetik weitgehend selbst entscheiden. Bei Urlaubsreisen reden sie gleichberechtigt mit. Und bei der Auswahl von Computern und Software haben sie oft schon das letzte Wort. Berghaus: „Da erkennen viele Eltern die Kompetenz ihrer Kinder an und richten sich danach."

Die Studie ist veröffentlicht unter dem Titel „Zielgruppe Familie ­ gestern, heute, morgen", Band 1, ISBN 3-921305-90-942
 

Dienstag, 13. Juli 1999
DIE WELT