Zentralblatt für Jugendrecht
Jugend und Familie - Jugendhilfe - Jugendgerichtshilfe
84. Jahrgang Heft 7/8/1997 Seiten 233 - 296

Dipl.-Psych. Ursula Ofuatey-Kodjoe, Freiburg i. Br.

»Zum Wohle des Kindes: Je jünger, desto weniger Kontakt?«
Zur Fragwürdigkeit von Faustregeln

In der Arbeit mit Scheidungsfamilien, in der Begegnung mit Sozialarbeitern, Rechtsanwälten und Familienrichtern und in deren Schriftsätzen stösst man auf eine Praxis der Umgangsregelung, die mit den Ergebnissen der Familienforschung der letzten 20 Jahre nicht zu vereinbaren ist. Es geht um den Umgang von Klein- und Vorschulkindern mit demjenigen Elternteil, mit dem sie nach der Trennung der Eltern nicht mehr in häuslicher Gemeinschaft leben. Da dies in über 90% die Väter betrifft, wird dieser Fall hier zugrunde gelegt. Gleiches gilt jedoch für den Umgang einer nicht betreuenden Mutter und ihrem Kind.

Die älteren Theorien über die soziale Entwicklung von Kleinkindern gingen von einer ausschliesslichen Ausrichtung auf die biologische Mutter als Nahrungsspenderin und als Bindungsobjekt aus. Dieser biologisch determinierten Beziehung wurden ins Mystische gehende Qualitäten zugesprochen. Erst die in der Forschung der 70er Jahre entdeckten Kompetenzen der Klein- und Kleinstkinder rückten auch die anderen primären Bezugspersonen ins Blickfeld. Nun wurden die väterliche Beziehung zum Kind und die reziproke Beziehung des Kindes zum Vater Gegenstand wissenschaflichen Interesses.

Die Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Forschung fliessen jedoch bis heute nicht in dem Masse in Entscheidungs- und Beratungsprozesse im Rahmen von Familientrennung und Scheidung mit ein, wie es wünschenswert und zur Sicherung des »Kleinkinderwohles« auch angezeigt wäre.

Die Regelungen der »Tender-Years-Doctrin«, nach der Kleinkinder bis zum Grundschulalter ohne wenn und aber der Mutter zugeordnet und der Vater für mehr oder weniger verzichtbar gehalten wurde, sind immer noch wirksam.

Wenn Kindeswohl definiert wird als die Schaffung von Lebensbedinungen, unter denen die Entwicklung des Kindes optimal gefördert werden kann, so setzt dies die Kenntnis der Entwicklungsaufgaben der verschiedenen Altersstufen voraus.

Daher sollen zur Beantwortung der Frage nach der bestmöglichen Unterstützung und Förderung von Kleinkindern in groben Zügen die Entwicklungsschritte dieses Lebensalters aufgezeigt werden.

Fraglos ist die Mutter die wichtigste Person am Lebensanfang. Sie ist für das Kind Teil seiner selbst. Sie lernt (!), in aktiver Anpassung an seine Bedürfnisse, seine Signale zu erkennen und zu erwidern. Mutter und Kind sind aufeinander bezogen, durch einander definiert und psychisch aufs engste, »symbiotisch«, miteinander verbunden. Dieses Bild der vollkommenen Mutter-Kind-Harmonie trägt jedoch die beiderseitige Enttäuschung in sich: den Zorn und die Wut des Kindes, dass die »gute Mutter« auch eine ¯»böse Mutter« ist, die ihm Trennungen zumutet, Versagungen auferlegt und Grenzen setzt. Früher als erwartet muss die Mutter die wachsenden Autonomiebestrebungen des Kindes erkennen und es in einem Bestreben unterstützen, das ihrem eigenen möglicherweise zuwiderläuft.

Nach. der symbiotischen Phase beginnt im 4. bis 5. Monat der Loslösungs- und Individuationsprozess (Mahler 1980), der mit dem vollendeten dritten Lebensjahr seinen Abschluss findet.

Etwa in der Mitte des ersten Lebensjahres reagiert das Kind. auf Mutter und Vater mit einer spezifischen Lächelreaktion: das Kind erkennt sie beide als unterschiedliche Personen, zu denen es eine Beziehung aufbaut. Nun wird der Vater zu einem Bindungsobjekt und zwar selbst bei minimaler Anwesenheit und wenig Beteiligung an der Pflege. Durch seine »Andersartigkeit« ist der Vater ein spezifisches Bindungsobjekt. Er unterscheidet sich mehr vom Kind als seine Mutter, die es als sich selbst ähnlich erlebt. Auch seine Interaktion unterscheidet sich von der mütterlichen Interaktion: sie ist körperbetonter, aktiver und »ruppiger«. Väter spielen eher Bewegungsspiele, die das Körpergefühl des Kindes fördern.

Forschungsergebnisse von Ainsworth et. al. (1978) hierzu ergaben:

Die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung läuft parallel zur Mutter-Kind-Beziehung.

Die Kinder entwickeln zu ihren Vätern und Müttern verschiedene Bindungsqualitäten.

Während der spielerischen Entdeckung und Abgrenzung seines Körpers nimmt das Kind Objekte und Teilobjekte wahr und setzt die Dinge und Personen seiner Umwelt zu Bildern zusammen, die es verinnerlicht. Es gelangt so zu einer »inneren Repräsentation« seiner selbst und seiner »Bindungsobjekte« Mutter und Vater. Mit zunehmenden motorischen Fähigkeiten zieht es immer weitere Kreise, es erforscht. und erobert seine Umwelt um mit etwa 18 Monaten ernüchtert festzustellen, dass es überall auf Grenzen stösst und sich wieder vermehrt seinen Betreuungspersonen zuwendet. In dieser Zeit der Wiederannäherung geht es vorrangig um die Lösung des Autonomie-Regressionskonfliktes, Hauptaufgabe des 2. und 3. Lebensjahres. Die Selbständigkeitsbestrebungen müssen mit'der Angst vor dem Getrenntsein in Einklang gebracht werden. Ebenso die Zuneigung zur Mutter und die Abneigung gegen sie wegen der unvermeidlichen Versagungen, Trennungen und Enttäuschungen.

Der Vater ist in diese Kämpfe des Kindes viel weniger verwickelt als die Mutter. Er lebt die Nähe zur Mutter ebenso vor, wie die Trennung von ihr. Er bietet dem Kind eigene Befriedigungsmuster und wird zu einem wichtigen Modell für nicht-symbiotische Liebesbezichungen. Durch die Triangulierung, die Beziehung zu zwei Bindungsobjekten, die selbst eine Beziehung miteinander haben, kann sich das Kind ohne unerträgliche Verlustängste einmal mehr auf die Seite der Mutter und einmal mehr auf die Seite des Vaters schlagen. Bedeutsam ist die Qualität der elterlichen Beziehung. Die Zuneigung der Eltern zueinander und die Zuneigung beider zu ihrem Kind sind die Basis für sein Gefühl von Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Eine fehlende oder vorwiegend aggressive Beziehung der Eltern erschwert dem Kind die Loslösung von der Mutter, seine Angst vor Beziehungsverlust wird übermächtigt und kann die angestrebte Entwicklung erheblich verzögern oder fehlleiten mit allen bekannten Symptomen (Figdor 1991).

Als eine mit der Mutter verbundene und gleichzeitig von ihr unabhängige Person ist der Vater für das Kind ein wichtiges Autonomie- und Identifikationsmodell. Die Auflösung der Mutter-Kind-Dyade (Zweierbeziehung) gelingt durch die Erweiterung zur Mutter-Vater-Kind-Triade (Dreierbeziehung). Der Vater führt das Kind aus der zu eng werdenden Bindung an die Mutter hinaus und »in die Welt hinein«. Wenn es sich bindungssicher fühlt, kann es mutig auf die Erkundyng seiner Welt gehen. Nun nimmt es an zwei Erfahrungswelten teil: an der Weiblichen und der Männlichen. Dies fördert seine Effektive, kognitive und soziale Entwicklung (Lamb, 1977).

Der Vater, der weiterhin an der Entwicklur;g seines Kindes aktiv teilnimmt und der für seine Kinder verfügbar ist, ist Liebesobjekt, Vorbild und äusseres Modell der eigenen Möglichkeiten. Selbstsicherheit, Sicherheit im Umgang mit anderen, intellektuelle Entwicklung und Selbständigkeit werden gefördert. Die gelebte Beziehung zum Vater begünstigt bei jungen wie bei Mädchen die Entwicklung ihrer Geschlechtsrollenidentität und eine positive Einstellung zur eigenen Männlichkeit bzw. Weiblichkeit (Rotrnann, 1981). Auf dieser Basis kann Schwierigkeiten bei der Partnerwahl und in der Gestaltung späterer Liebesbeziehungen vorgebeugt werden, die häufig bei vaterlos aufgewachsenen Kleinkindern, Kindern und jugendlichen zu beobachten sind.

Vom Kindergarten- bis zum Grundschulalter wird nun gefestigt, was in den ersten Lebensjahren erworben werden konnte: die Erfahrung der eigenen Individualität, der eigenen, unverwechselbaren Persönlichkeit, die der Aussenwelt mit Mut und Vertrauen begegnet - die Erfahrung von Rückschlägen inbegriffen.

Aus dem oben gesagten lässt sich die Problematik erahnen, nach der Trennung der Eltern einen »kleinkindgerechten« Umgang zu gestalten.

Für die Bereitstellung optimaler Entwicklungsbedingungen brauchen Kinder von Beginn ihres Lebens an:

Die Möglichkeit, zu beiden Eltern eine Beziehung zu entwickeln, die zu einer Mutter-Kind- und zu einer Vater-Kind- Beziehung führt mit den naturgegeben Kriterien von lebenslanger Dauer und Unkündbarkeit.

Die sichere Zuneigung beider Eltern. Eine Mutter, die das Kind nicht aus eigener Bedürfigkeit übermässig an sich bindet und einen Vater, der für das Kind von Anfang an emotional verfügbar ist.

Die wiederholte Versicherung, dass es keinen Elternteil verlieren wird.

Die explizite Erlaubnis »es ist gut, wenn du zum Papa gehst« und die implizite Erlaubnis durch Mimik, Gestik und Stimmlage, den nicht betreuenden Elternteil lieben zu dürfen. Wenn das Kind nach der Rückkehr freudig und ohne innerlich zu »kürzen« von seinen schönen Erlebnissen mit dem anderen Elternteil erzählt, dann ist dies gelungen. Zweifel sind angebracht, wenn die Geschichten »gefallen«: »der Papa kocht nicht so gut wie Du« oder »der Freund von Mama ist blöd«. Hier hat sich das Kind mehr auf die Bedürfnisse und Wünsche seiner Eltern eingestellt als auf seine eigenen (Jopt 1992).

Die Erlaubnis, über den als Verlust erlebten Auszug traurig und wütend zu sein und diese Gefühle auch zeigen zu dürfen.

Eine für das Kind erfahrbare positive Elternbeziehung: Das verlangt von beiden Eltern eine gegenseitige Haltung von Respekt und Höflichkeit vor dem anderen - auch nach der Trennung als Paar. Eine »positive Repräsentation« des anderen Elternteils von beiden Eltern ist notwendig, um das Bild des Kindes und damit seine eigene Identität nicht zu gefährden. Wer den ehemaligen Partner abwertet, wertet dessen Teil im eigenen Kind ab. Auch wenn sich die Eltern dessen nicht bewusst sind, die Kinder wissen und spüren es. Ihr Selbstwertgefühl erleidet empfindliche Einbussen.

Die Ausgrenzung des Vaters gerade in der konfliktreichen Entwicklungszeit des 2. und 3. Lebensjahres kann sich auf die zukünftigen Beziehungen des Kindes fatal auswirken.

Ausgrenzende Mehrelternfamilien (früher: Stieffamilien) zerbrechen nach den jüngsten Forschungserkenntnissen doppelt so häufig wie Mehrelternfamilien, die den biologischen Elternteil miteinbeziehen. Die Kinder zeigen signifikant mehr Verhaltensstörungen und als junge Erwachsene Probleme in der Lebensbewältigung (Figdor 1981).

Bei der konkreten Gestaltung des Umgangs ist ein kritischer Faktor der Übergang von einem Elternteil zum anderen. Das Kind muss die Mutter verlassen, um mit dem Vater zu gehen und es muss den Vater verlassen, um zur Mutter zurückgebracht zu werden. Jeder dieser, Abschiede kann mit Verlust- und Verlassenheitsängsten verbunden sein. Diese Ängste werden häufig zur »Angst vor dem Vater« uminterpretiert und zur Begründung für Umgangsbeschneidung oder -aussetzung herangezogen: eine Praxis, die die Verlassenheitsängste bestätigt und den Verlust nahezu »gesetzlich herbeiführt«.

Hier sind Einfühlungsvermögen und Phantasie der Eltern gefordert: Wenn der ankommende Vater eine Weile mit dem Kind in Anwesenheit der Mutter zusammen spielt, sich die Mutter dann langsam zurückzieht, sich quasi »uninteresant macht«, dann ist das Kind eher bereit, sich dem Vater neugierig zuzuwenden. Auch die Wohnung verständnisvoller Grosseltern oder anderer Bezugspersonen aus der Welt des Kindes kann sich für eine »weiche« Übergabe eignen.

Ein Kind, das zur Abholung bereits vor die Tür gestellt wird, da die Präsenz des anderen Elternteils in der Wohnung für unzumutbar erklärt wird, lernt dagegen zweierlei: Die Tatsache, dass zwischen den Eltern etwas nicht stimmt, bedeutet in seiner ich-zentrierten Weltsicht dass mit ihm selbst etwas nicht stimmt und zweitens, dass es nicht gut ist, beide lieb zu haben und mit ihnen zusammen sein zu wollen.

Dem fehlenden kindlichen Zeitbegriff kann Rechnung getragen werden durch häufigere, wenn auch kürzere Begegnungen: z.B. festigen zwei Stunden Abendritual die Woche oder Spielplatz die innere Beziehung. Danach sind gemeinsame Wochenenden und Ferien kein Problem mehr. Fassbare Anhaltspunkte wie z.B. ein Abreisskalender, auf dem die Tage mit dem Papa einen roten Punkt haben o.ä. helfen zur zeitlichen Orientierung, Photos des abwesenden Elternteils im Kinderzimmer erhalten auch während dessen Abwesenheit das »innere Bild« und machen die Beziehungskontinuität sichtbar.

Probleme in der Kommunikation der Eltern können häufig dadurch entstehen, dass sich beide auf ihre (Rechts-) Positionen zurückgezogen haben und diese gegeneinander verteidigen. Aus der oben erläuterten Funktion des Vaters geht hervor, dass er eine wichtige Rolle spielt bei der Entlastung der Mutter-Kind-Beziehung. Es kann den Umgang der Eltern miteinander erleichtern, wenn der Vater auf die Bedürfnisse der Mutter eingeht und mit ihr zusammen heraus findet, was sie braucht, um eigene Freiräume zu bekommen.

Das Kindeswohl gerade kleiner Kinder zu wahren, ist ein anspruchsvolles Ziel. Es sind immer die Eltern, die dafür die Bedingungen schaffen und sie haben ein Anrecht darauf, umfassend beraten und unterstützt zu werden.

Die alten Faustregeln müssen sehr kritisch hinterfragt werden, viele halten den neuen Erkenntnissen nicht mehr stand: Je jünger ein Kind ist, desto häufiger sollte es Kontakt haben zu dem Elternteil, mit dem es nicht mehr zusammenlebt. Das ergibt sich aus den Bedürfnissen dieser Entwicklungsstufe. Bis zum Schulalter sollte es ca. ein Drittel der Jahreszeit mit diesem Elternteil verbringen. Diese Zeit wird als Voraussetzung dafür betrachtet, dass eine Eltern-Kind-Beziehung wirklich gelebt werden und sich weiterentwickeln kann.
 

Literatur:
Ainsworth M.D.S. et al (1978). Patterns of attachment. Hillsdale, N.Y. Erlbaum.
Figdor, Helmut (1991). Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung, Matthias-Grunewald-Verl., Mainz
Lamb, M. (1986). The Father's Role. N.Y. John Wiley & Sons.
Mahler, Margret S. et al (1980). Die psychische Geburt des Menschen, Fischer Verlag Ffm.
Mahler, Margret S. (1979). Studien über die ersten drei Lebensjahre, Klett-Cotta, Stuttg.
Rotmann, M. (1981). Der Vater der frühen Kindheit - ein strukturbildendes drittes Objekt. In: Bittner, G. (Hrsb.): Selbstwerden des Kindes. Ein neues tiefenpsychologisches Konzept. Fellbach (Bonz).
 

Empfohlene Literatur:
Fthenakis, Wassilos E. et al (1982). Ehescheidung, Konsequenzen für Eltern und Kinder, München-Wien-Baltimore (U & S).
Jopt, Uwe-Jörg (1992). Im Namen des Kindes: Plädoyer für die Abschaffung des alleinigen Sorgerechts. Hamburg: Rasch und Röhrig.