Selbst Reisepläne landen vor Gericht
Starker Trend zum gemeinsamen Sorgerecht - aber in der Praxis zeigen sich die Tücken von Alexandra Ringendahl

Ein Kind braucht beide Eltern. Meinten die Väter und Mütter des neuen Kindschaftsrechts. Und machten mit der Reform des Kindschaftsrechts die gemeinsame Sorge Geschiedener für die jährlich rund 160000 betroffenen Kinder zum Regelfall.

Seit dem 1. Juli 1998 muss das alleinige Sorgerecht begründet und vor Gericht erstritten werden. Das neue Recht verfehlte sein  Ziel zumindest zahlenmäßig nicht. Eine ,,extreme Trendwende" bilanziert der  Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstages, Siegfried Willutzky.  "Derzeit liegen die Anträge auf Alleinsorge bei Scheidungen bei etwa 15 Prozent." Vor der Reform habe der Anteil der Alleinsorge noch bei rund 85 Prozent gelegen. Das heißt, rund 85 Prozent der geschiedenen Eltern müssen sich weiter über die Erziehung ihrer Kinder verständigen. Laut Gesetz entscheidet der Elternteil, bei dem das Kind lebt, über alltägliche Fragen. Über Fragen ,,von erheblicher  Bedeutung"  entscheiden beide gemeinsam. "Die Abgrenzung der Kategorien ist aber nur theoretisch klar", bemängelt Willutzky. Praktisch bedeutet das endlose Streits über Arztbehandlungen oder Schulfragen, die oft vor Gericht ausgetragen werden. So stritten sich etwa Eltern vor dem  Kölner Oberlandesgericht, ob die Mutter mit der Tochter (3) nach Ägypten reisen durfte. Der Vater war wegen gesundheitlicher Gefahr dagegen. Eine Frage von erheblicher  Bedeutung, entschied der Richter. Der Urlaub fiel flach.

"Die gemeinsame Sorge stößt sich an der Alltagspraxis, da die mühsame Einzelabstimmung einfach nicht möglich", berichtet Peggi Liebisch, Geschäftsführerin des Verbandes Alleinerziehender Mütter und Väter (VAMF). Konsequenz sei eine Flut von Einzelanträgen die die Gerichte überschwemmten und die gemeinsamen Sorge langsam aushöhlen". Aber dies sei oft der einzige Weg, da Anträge auf Alleinsorge meist aussichtslos seien. Liebisch beklagt als Folge der Gesetzesreform eine ,,neue Ideologie der Richten um fast jeden Preis auf gemeinsame Sorge zu entscheiden. Diese habe Vorrang vor der Beurteilung von Kooperationsbereitschaft und Erziehungsfähigkeit der Eltern. Petra Winkelmann von der katholischen Arbeitsgemeinschaft Interessenvertretung Alleinerziehende (AGIA) beurteilt das neue Recht als starke Mehrbelastung und Herausforderung für die Mütter. Den Hauptmangel sieht sie in der zu starken nicht klar definierten Position der Richter. Sie entscheiden, ob die Kooperationsbereitschaft beider Eltern als Voraussetzung für die gemeinsame Sorge gegeben ist. Dabei sind die Anforderungen je nach Oberlandesgericht verschieden. ,,Sogar sich widersprechende Richtersprüche sind nicht selten". So entschied das Düsseldorfer Oberlandesgericht, dass die Grundlage für gemeinsame Sorge fehlt, wenn Eltern in zentralen Erziehungsfragen unterschiedlicher Meinung sind. Das Familiengericht Offenbach urteilte dagegen, dass die fehlende Kommunikation zwischen den Eltern nicht die Erteilung von Alleinsorge rechtfertige. Abhilfe schaffen könnte ein Sorgeplan. ,,In dem könnten bei der Scheidung Fragen, wie etwa Urlaubsregelungen geklärt werden", erläutert Liebisch. Ein Schutz vor Dauerstreit.

Thorsten Mahler vom Verein Väteraufbruch für Kinder sieht aus der Perspektive der Väter ebenfalls das Problem der Willkür von Richtern. ,,Im Oberlandesgericht Frankfurt gibt es kein gemeinsames Sorgerecht gegen den Willen der Mutter", klagt er. In seinem bundesweiten Verein sind 1000 Väter Mitglied, die vergeblich um die gemeinsame Sorge, oft sogar um das gesetzlich verankerte Umgangsrecht mit ihrem Kind kämpfen. Väter, die Opfer der Verweigerungshaltung der Mutter werden. Auch das ist trotz neuem Recht Realität. Auch Mahler ist betroffen und hat seine beiden Kinder seit zweieinhalb Jahren nicht mehr gesehen.

Zudem gebe es ein Informationsdefizit bei den Eltern,  beklagt Winkelmann. Wenn es schon keine Mediationspflicht gebe, müsse zumindest Beratung garantiert sein. Größter Handlungsbedarf besteht nach Ansicht der Verbände bei den Familienrichtern. Diese müssten gesetzlich zu einer Zusatzausbildung verpflichtet werden, so Winkelmann. Nur mit fundierten psychologischen Kenntnissen könnten Sorge-Entscheidungen verantwortlich getroffen werden.

"Solange viele Richter als Weiterbildung nur EDV-Kurse belegen, bleibt das neue Kindschaftsrecht ein Papiertiger" resümiert Mahler.
 
 

Allgemeine Zeitung Mainz vom 28.02.2000