Berliner Morgenpost, 4.7.2001

"Norwegische Spitzenpolitiker bringen ihr Bedauern über die Leiden der Kriegskinder zum Ausdruck und nehmen demonstrativ an Veranstaltungen zu diesem Thema teil, so auch an der heute von der deutsch-norwegischen Willy-Brandt-Stiftung im Berliner Rathaus Schöneberg organisierten Tagung."

Besatzungskinder in Norwegen: Heimatlos und kulturell entwurzelt Ausstellung und Tagung in Berlin zu einem einstigen Tabu-Thema

Von Ayhan Bakirdögen

Berlin - Ragnhild Führer war 18 Jahre alt, als sie 1942 in der südnorwegischen Stadt Fredrikstad ihren späteren Ehemann, einen in Norwegen stationierten deutschen Marinesoldaten, kennen lernte. Ragnhilds Mutter wusch damals Wäsche für die deutschen Besatzungsstreitkräfte. Eines Tages brachte der gebürtige Berliner Erich Führer seine Wäsche vorbei, die junge Ragnhild sah «die wunderschönen braunen Augen» und verliebte sich Hals über Kopf in den deutschen Obergefreiten. «Ich empfand große Zuneigung zu ihm. Als junger Mensch hat man ohnehin weniger Angst», erinnert sich die heute in Berlin lebende 77-Jährige.

Sich mit dem Feind einzulassen, war in Kriegszeiten das Schlimmste, was sie machen konnte. Trotz heftiger Anfeindungen - es hagelte Schimpfworte wie «Deutschenflittchen» oder «Deutschenhure» - heiratete Ragnhild drei Jahre später ihren Erich und brachte im Kriegslazarett des Gefangenenlagers Larvik ihre Tochter Renate zur Welt. Ihr Mann, ein gelernter Tischler, befand sich zu dieser Zeit im britischen Internierungslager in Horten. Nach der Übersiedlung der Familie nach Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg folgten zwei weitere Kinder. Sie habe nie ein «schlechtes Gewissen gehabt», einen deutschen Soldaten geheiratet zu haben, betont Ragnhild Führer.

Eine Ausnahme war sie damals nicht. Ähnlich wie in Dänemark, wo während der Besatzungszeit rund 12 000 von deutschen Soldaten gezeugte Kinder geboren wurden, ließen sich auch in Norwegen tausende junge Frauen mit deutschen Soldaten ein und brachten rund 9000 registrierte Kriegskinder auf die Welt. Von der Nazi-Führung wurde das offiziell forciert. Die Norweger galten nach der rassistischen Ideologie der Nazis als «arisch». In einem Schreiben wurden die rund 400 000 in Norwegen stationierten Soldaten ermutigt, «so viele Kinder wie möglich zu zeugen, egal, ob ehelich oder unehelich».

Bereits 1935 hatte SS-Reichsführer Heinrich Himmler den Verein «Lebensborn» gegründet, in dem von so genannten arischen Herrenmenschen gezeugte Kinder im nationalsozialistischen Sinn erzogen werden sollten. Aus allen besetzten Gebieten wie Frankreich oder Polen wurden von den Nazis als «rassisch wertvoll» eingestufte Kinder germanischen Typs in diese Heime geschickt. Während der deutschen Besatzung zwischen 1940 und 1945 wurden in Norwegen 82 Heime installiert, in denen Kinder aus deutsch-norwegischen Beziehungen untergebracht wurden. Die Erziehungsmaßnahmen waren äußerst streng.

Nach dem Krieg erging es den Betroffenen meist schlecht. Norwegische Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, wurden beschimpft und geschlagen. Ihre Köpfe wurden oft kahl rasiert. Das Thema Kriegskinder war in Norwegen in den folgenden Jahrzehnten tabu und wurde praktisch totgeschwiegen. Die heimatlosen und kulturell entwurzelten Jugendlichen standen mit ihren seelischen Schmerzen oft allein da.

In den vergangenen Jahren hat sich das Blatt gewendet. Das Thema wird öffentlich diskutiert. Norwegische Spitzenpolitiker bringen ihr Bedauern über die Leiden der Kriegskinder zum Ausdruck und nehmen demonstrativ an Veranstaltungen zu diesem Thema teil, so auch an der heute von der deutsch-norwegischen Willy-Brandt-Stiftung im Berliner Rathaus Schöneberg organisierten Tagung. Dazu haben sich der norwegische Außenminister Thorbjorn Jagland und die Sozialministerin Guri Ingebrigsten sowie rund 30 ehemalige Kriegskinder angekündigt. Die zur Tagung gehörende Fotoausstellung des ehemaligen norwegischen Besatzungskindes Einar Bangsund wird von Bundesinnenminister Otto Schily und dem SPD-Politiker Egon Bahr eröffnet.

Bei beiden Veranstaltungen wird auch Ragnhild Führer in der ersten Reihe sitzen. Die Norwegerin hat vor rund zwanzig Jahren angefangen, auf eigene Faust ehemalige deutsche Besatzungssoldaten und ihre norwegischen Nachkömmlinge zu suchen. In Sherlock-Holmes-Manier durchforstet die gelernte Lohnbuchhalterin bundesweit staatliche Archive und stellt über persönliche Beziehungen die Kontakte zwischen den Familienmitgliedern her. Bis jetzt hat sie rund 150 Familien wieder zusammengebracht. «Es macht mir große Freude, wenn ich die Menschen glücklich machen kann. Solange ich mich geistig fit fühle, werde ich diese Arbeit weiterführen», erzählt die Witwe und fünffache Urgroßmutter.