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Der Zwischenmensch
Rudi Richardson kommt als Besatzungskind zur Welt und irrlichtert durch sein Leben
VON CHARLOTTE WIEDEMANN

Seine Hände flattern. Es dauert quälend lange, bis so eine flatternde Hand ein Blatt Papier aus einer Klarsichthülle gezogen hat. Nervosität - und zu viel Kokain, früher. Die Klarsichthüllen trägt er jetzt immer mit sich herum, in einer billigen Aktentasche, sie verleihen seinem bizarren Leben einen Anschein von Ordnung.

Außer der Aktentasche gibt es nur noch dieses Zimmer, Zimmer 211 im Männerwohnheim der Heilsarmee, Berlin. Da landen Menschen, die nirgends hingehören. Und irgendwie gehörte dieser Mann mit dem phantastischen Namen Rudi Richardson immer nirgends hin. Er war ein Besatzungskind. "Negermischling", "Halbblut", so nannten sie jemanden wie ihn in den 50er Jahren. Deutschland wollte ihn nicht.

Nun ist er wieder da, unfreiwillig gestrandet im Land seiner Geburt. Mr. Richardson aus Amerika: 48 Jahre alt, knapp 1,90 Meter groß, athletisch gebaut, weiches eloquentes Englisch. Amerika wollte ihn nicht mehr, ließ ihn deportieren - als Deutschen. Und Deutschland zögert, zum zweiten Mal, ob es ihn will. Eine unglaubliche Geschichte.

Ein schwarzer Kunde, ein GI
Bayern, im Mai 1955: Die Bundesrepublik streift die Nachkriegszeit ab; die Besatzung durch die westlichen Siegermächte geht offiziell zu Ende. Im Frauengefängnis Aichach bringt die ledige Lieselotte Ackermann an einem Sonnabend um 13.10 Uhr einen Jungen zur Welt; sie ist 22 Jahre alt, dies ist ihr drittes Kind. Die Geburtsurkunde verzeichnet in Sütterlin-Schrift den Namen Udo; in der Zeile für den Namen des Vaters: ein Strich. Lieselotte Ackermann war wegen Prostitution verhaftet worden, schwanger mit Udo.

Sie stammt aus Würzburg, eine hübsche Frau, groß, schlank, dunkles Haar. Das kleine Gehalt einer Hausgehilfin bessert sie an Wochenenden auf, fährt nach Kitzingen, da sind immer viele Amerikaner. Über Udos Vater weiß sie später nur: Es war einer ihrer schwarzen Kunden, ein GI.

Das Jugendamt, Vormund aller unehelichen Besatzungskinder, gibt den Säugling zu einer Pflegefamilie in der Nähe von Schweinfurt. Lieselotte Ackermann wird den Jungen einmal dort besuchen; sie geht mit dem Zweijährigen spazieren, ihre Schultern verkrampfen sich unter den Blicken der Passanten: Neger-Flittchen.

Das Wort Rassenschande ist zehn Jahre nach Ende der Nazi-Zeit offiziell tabu, doch in den Köpfen noch lebendig. Lieselotte Ackermann entstammt selbst, nach NS-Begriffen, einer geächteten Verbindung, einer "Mischehe". Der Vater Jude; seine eigene Frau verrät ihn an die SS, er kommt ins KZ Buchenwald. Auch die Kinder sind der Gefühllosen nur Belastung: Halbjuden. Lieselotte wächst in einem Heim auf, zur Quasi-Waisen gemacht, verstoßen. Eine beschädigte Kinderseele, ein Leben lang auf der Suche nach Halt. So wie später Udo, der Sohn, aus dem Rudi wird, der Abgeschobene.

Die Pflegeeltern schlagen das dunkelhäutige Kleinkind, daran erinnern sich Nachbarn noch nach Jahrzehnten. Wird der Junge noch schlimmer misshandelt? Angstzustände suchen später den erwachsenen Richardson heim, seit Jahren leidet er unter Panikattacken, fühlt sich hilflos wie ein Kleinkind, gefesselt, mit Scheren bedroht; jemand uriniert auf ihn. Er lebt kaum ohne Psychopharmaka, nennt sich selbst manisch-depressiv. Fast exhibitionistisch breitet er all das aus, als habe er ohnehin nichts zu verlieren. Er schreibt Gedichte, stellt sie ins Internet: Sprachliche Überlebensversuche, ein Ringen mit albtraumhaften Visionen, Verlorensein unter Wasser, Atemnot, und immer wieder ein nackter schmutziger Säugling. Erlösung aus diesem Dunkel findet sich nur bei Gott; nur er hört den Schrei nach Liebe, ganz Ganz-Sein. Gedichte wie Gospels.

Der geplatzte Traum von Integration
Richardson zählt zu den letzten so genannten Besatzungskindern. Fast 70 000 sind es im Jahrzehnt nach Kriegsende in den Westzonen, nur knapp 5000 haben schwarze Väter. Dennoch sind die farbigen Kinder ein Politikum ersten Ranges, der Bundestag debattiert das "rassische Problem", Schulbehörden und Jugendämter prophezeien, diese so andersartigen Mischlinge würden nie integrierbar sein. Erklärtermaßen zum eigenen Wohl werden die Kinder, an deren Deutschsein rechtlich kein Zweifel besteht, ab 1951 außer Landes geschoben: per Sonderregelung in die USA, zu schwarzen Adoptiveltern. Und Schwarzamerika drängt sich, die "Brown Babies" in die Arme zu schließen. Sie verkörpern die Hoffnung auf eine Gesellschaft ohne Rassendünkel - in den meisten US-Bundesstaaten ist eine Ehe zwischen Schwarz und Weiß noch verboten.

So wird das Pflegekind Udo Ackermann zu Rudi, zum Sohn von Claud und Alva Richardson, San Pedro/Kalifornien. Er ist knapp fünf, als sein amerikanisches Leben beginnt - der Traum von Integration erfüllt sich nicht. Das neue Elternhaus ein Desaster; die drogenkranke Mutter verfällt vor den Augen des Heranwachsenden; er selbst greift schon mit 16 zu Heroin. Mit 17 erfährt er plötzlich von seiner deutschen Herkunft; ein Schock, er fühlt sich "wie zweigeteilt", wer ist Rudi, wer ist Udo?

Immer irrlichtert er zwischen Schwarz und Weiß, den einen ist er zu hell, den anderen zu dunkel. An der Schule hänseln die schwarzen Kinder, er rede wie ein Weißer - Rudi hat keine schwarze Stimme, hat nicht den nasalen Ton. Er buhlt um Anerkennung "auf beiden Seiten des Zauns", schauspielert, wechselt Klamotten und Musikvorlieben je nach Community.
 

Richardson ist intelligent, begabt und wortgewandt, ein blendender Klavierspieler; als er bei der US-Army Dienst tut, tritt er als Pianist in Uniform auf. In einer schwarzen Kirchengemeinde wird er Prediger, in Hollywood bringt er es autodidaktisch zum Rechtsanwaltsassistenten in feinen Kanzleien. Immer will er besser sein als andere, tut alles, nur um Applaus zu bekommen. Und bricht dann doch immer wieder ein, Drogen, Alkohol, Diebstähle, Gefängnis. Auch in seiner sexuellen Orientierung irrlichtert er, liebt mal Männer, mal Frauen. Ein Zwischenmensch, in allem.

"So lange ich mich erinnern kann, hatte ich diese Leere im Herzen. Ich wollte Liebe und Anerkennung, von wem auch immer. Ich konnte mich selbst nicht akzeptieren, ich war emotional immer hungrig."

Nach seinen deutschen Wurzeln forscht er erst, als das Verhältnis zur Adoptivmutter völlig zerrüttet ist. "Ich wollte irgendjemandes Sohn sein", sagt Richardson brutal. Über Jahre tut sich nichts. Dann 1995, er sitzt gerade wieder einmal im Knast, liegt in der Gefängniskapelle eine Broschüre der Organisation "Friends outside". Sie finden Lieselotte Ackermann, mittlerweile 63 Jahre, binnen dreier Wochen in Würzburg.

"Ich will keinen Kontakt", schreibt die Mutter zurück. Später gibt es ein paar Telefonate, sie spricht kaum Englisch. Er schickt ihr Bilder: "Ich liebe dich." Sie schickt ihm ein Jugendbild. Doch sie bleibt reserviert, will ihn nicht sehen. Die Gespenster der Vergangenheit drängen heran, Verfehlungen, Schuldgefühle. Sie wohnt in einem großen Mietshaus, fürchtet das Gerede der Leute, wenn ein Farbiger sie besucht. Immer noch.

Die Mutter starb im vergangenen Jahr, an den Folgen von Alkoholismus. Der Sohn hat sie nie mehr gesehen.

Man muss die Achterbahn dieses Lebens nachgefahren sein, bevor man sich dem Seltsamsten nähert: Dieser Mann wurde in 43 Jahre USA nie formell US-Bürger. Erst hofft er vergebens, er bekäme die Staatsbürgerschaft nach vier Jahren Dienst in der Army. Später lässt er alles schleifen, kümmert sich nicht mehr, er hat ja Green Card, Führerschein, Sozialversicherungsausweis.

Läuterung und Durchbruch
Und dann sitzt er plötzlich, im März dieses Jahres, in Abschiebehaft. Im Zuge des Kampfs gegen Terrorismus hat Amerika seine Ausländergesetze verschärft: bei mehr als einem Jahr Gefängnis - raus. Er hat die Strafe verbüßt, nun ist er "unerwünschter Ausländer". Das deutsche Generalkonsulat in Los Angeles ist den US-Behörden zu Willen, stellt Richardson einen Pass-Ersatz aus, der vier Wochen gültig ist. Das reicht für die Deportation - eine Transport-Staatsangehörigkeit. Am Tag nach seiner Ankunft in Deutschland erlischt der Pass.

Richardson irrt als Staatenloser durch das Land seiner Geburt. Nervenzusammenbruch; ein Polizeiwagen liefert ihn ein in der Psychiatrie.

Seit fünf Monaten wartet er nun in Zimmer 211 der Heilsarmee, dass der Berliner Senat ihn als Deutschen anerkennt. Ihm wird gesagt: Es müsse in diversen Archiven geforscht werden, ob seine Mutter je ihre Staatsangehörigkeit aufgab. Als ob dies die Tatsache ungeschehen machen könnte, dass Lieselotte Ackermann deutsch war, als sie ihn zur Welt brachte. "Das beleidigt meine Intelligenz", sagt Richardson.

Er verschickt Protestbriefe, auch an den Bundeskanzler. Wenn auf dem Sozialamt niemand englisch reden will, dann geht er türenknallend. Leicht kränkbar registriert er hellwach jede Demütigung und macht sich schwärzer als er ist: "Guck' Dir mein Foto in der Akte an: Ich bin schwarz wie Kohle."

Im Gefühl, abgelehnt zu werden von einem Land, das ihn schon einmal nicht haben wollte, entdeckt er ein Wir, das Wir der verachteten Besatzungskinder. Wenn er hört, in seinem Geburtsjahr habe es nur noch 41 braune Babys gegeben, dann sagt er fast ehrfürchtig: "Wow! Und ich bin eines von ihnen!" Als sei das eine Auszeichnung.

Seit fünf Monaten ist er clean, lebt ohne Drogen. In Berlin hat er eine Therapie bei "Tauwetter" begonnen, einer Anlaufstelle für Männer, die als Kind misshandelt wurden. Seit er in Deutschland ist, hätten sich die Flashbacks, die Wiederkehr traumatischer Erlebnisse verstärkt, sagt Richardson. Er klagt darüber nicht, erlebt die massive Rückkehr von Vergangenem vielmehr als eine Katharsis, als Läuterung und Durchbruch: Er fange an, sich zuständig zu fühlen "für all die Scherben und Puzzleteile" seines Lebens, laufe vor dem Gefühl der Scham und des Versagens nicht mehr davon. Emphatisch religiös nennt er es: sich selbst vergeben. Den schmutzigen Säugling umarmen.

Unter der Hand ist aus dem Warten auf ein Stück Papier etwas anderes geworden. Vielleicht Richardsons Reise zu sich selbst.

Dossier: Welche Ausländer wollen die Deutschen?
 
 

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Dokument erstellt am 30.10.2003 um 18:04:03 Uhr
Erscheinungsdatum 31.10.2003