Kinder der Schande
 
Neue dänische Geschichte(n)
 
Von Verena Stössinger

"Dänemark entdeckt seine Weltkriegsvergangenheit neu" titelte vor kurzem die NZZ. Anlass für den Artikel von Marc-Christoph Wagner vom 23. 11. 2001 bildet eine Debatte, die in den letzten Jahren begann und zunehmend an Breite und Schärfe gewinnt. Es geht um die Aufarbeitung der Zeit zwischen dem 9. April 1940, der Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen, und der "Befreiung" im Mai 1945 mit dem Umbruch im August 1943, als das Land in den militärischen Ausnahmezustand versetzt und die Macht vom deutschen Polizeiapparat übernommen wurde: um die Differenzierung des unschuldig-heroischen Schwarzweissbildes, genauer gesagt, das 'die Dänen' noch immer von jener Zeit haben. Um neue Fragen an die Vergangenheit und um den Abbau liebgewordener nationaler Mythen.
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Beschleunigt wurde der Prozess im letzten Jahr durch brisante Bücher, die sehr viel öffentliche Resonanz fanden. Zwei untersuchen die "stikkerdrab", die "Liquidierung" von Kollaborateuren und Verrätern durch die dänische Widerstandsbewegung (Stefan Emkjær: "Stikkerdrab", Aschehoug 2000; Peter Øvig Knudsen: "Efter drabet / Nach dem Mord", Gyldendal 2001), und Christian Jensen, Tomas Kristiansen und Karl Erik Nielsen beleuchten die wirtschaftliche Verstrickung Dänemarks, die eigentlich als wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Nazideutschland bezeichnet werden kann ("Krigens købmænd / Kaufleute des Krieges", Gyldendal 2000). Dazu kommen eine Reihe von Publikationen, die Lebensgeschichten erzählen – zuletzt etwa Jørgen Kielers, des Widerstandskämpfers, minutiöse zweibändige Autobiografie "Hvorfor gjorde I det? / Warum habt ihr das getan?" (Gyldendal 2001) – und dabei gelegentlich auch über bisher vernachlässigte oder tabuisierte Themen schreiben. Über die "tyskertøser" zum Beispiel, die weiblichen "Feldmatratzen" deutscher Besatzungssoldaten, oder über die Frage, wie Kinder jene Zeit erlebt und überlebt haben. Nicht nur die Kinder der "Deutschenliebchen", wie sie in Arne Ølands Buch "Horeunger og helligdage / Hurenkinder und Feiertage" (Det Schønbergske Forlag 2001) zu Worte kommen, sondern auch deutsche Flüchtlingskinder (Kirsten Lylloffs Artikel in der Zeitschrift "historisk tidning" und in der Tageszeitung "Politiken"), das Kind einer dänischen Nazigrösse (Claus Bryld: "Hvilken befrielse? /Welche Befreiung?", Gyldendal 1995) oder Kinder von Widerstandskämpfern ("Fra tavshed til tale / Vom Schweigen zum Sprechen", Forum 2001). Sie wuchsen oft in einer Atmosphäre von Stillschweigen, Schande und Scham auf, selbst wenn sie nicht direkten Repressionen und Diskriminierungen ausgesetzt waren.
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Diese Texte wurden nicht von gestandenen Historikern verfasst, sondern von Journalisten, Zeitzeugen oder jüngeren Geschichtswissenschaftlern (wie Stefan Emkjær). "Sehr lange Zeit war die Geschichtsschreibung in Dänemark vor allem eine Geschichte der politischen Vorgänge", sagt Anette Warring, Lektorin am Roskilde Universitetscenter RUC: "und es ging dabei vor allem um ein positivistisches Sammeln und Ordnen von verallgemeinerbaren Fakten. Um Kategorienbildung und das Herausarbeiten der grossen Linien. Erst die neuere Forschung stellt andere Fragen, legt andere Schnitte durch die Materialberge und bezieht dabei auch neuere Methoden ein." Ausserdem ging 1989 mit dem Fall der Mauer auch "den allierede fortælling" zu Ende, wie sie sagt, die Zeit also, in der Politik und Zeitgeschichte vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes gelesen wurden, wobei Dänemark recht fraglos auf die Seite der Alliierten zu liegen kam. Jetzt werden die kollektiven Mythen befragt, auch nach ihrer Funktionalität, oral history-Methoden werden angewandt und mit neuen Kategorien – gender-Fragen etwa – wird die politisch und oft auch moralisierend argumentierende Rückschau aufgebrochen.
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Aber auch Wirtschaft und Politik sehen sich durch die Publikationen herausgefordert. So soll der A.P. Møller-Konzern nach Erscheinen des Buches von Jensen/Kristiansen/Nielsen über die wirtschaftliche Kooperation Dänemarks mit Nazideutschland umgehend seine Aktien an der Zeitung "Berlingske Tidende" abgestossen haben, wie Marc-Christoph Wagner schreibt: dort arbeiten nämlich die drei Journalisten, die das Buch verfasst haben. Und die dänische Regierung habe eine Historikerkommission eingesetzt, die das Thema gründlich aufarbeiten soll; ein Kredit von fünf Millionen Kronen (einer Million Franken) stehe für die dreijährige Arbeit der dreizehn Experten zur Verfügung – stand jedenfalls vor dem Regierungswechsel.
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Verena Stössinger

Kinder der Schande
Noch immer auf der Suche nach Identität und Recht: die Kinder der 'Deutschendirnen' in Dänemark und Norwegen

Mindestens zwanzigtausend Kinder haben deutsche Wehrmachtsangehörige in Dänemark und in Norwegen gezeugt. Einige von ihnen waren auch nach Ende des Krieges noch grausamen Repressionen ausgesetzt, die meisten litten 'nur' unter Schande und Scham, vielen wurde die Herkunft verschwiegen und bis in die 80er-Jahre hinein war ihnen der Zugang zu ihren Akten verwehrt. Seit ein paar Jahren haben sich einige von ihnen organisiert und kämpfen gemeinsam um ihre Geschichte und um ihr Recht, in Norwegen auch vor Gericht.

Arne merkte am ersten Schultag, dass mit seinem Familiennamen offenbar etwas nicht stimmte: der Lehrer hatte aus dem Klassenbuch nicht den Namen des Mannes seiner Mutter vorgelesen, sondern den Mädchennamen der Mutter. "Mir wurde klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber ich fragte meine Mutter nicht. Ich wusste, dass ich dazu meinen Mund halten sollte. Als Kind spürt man es, wenn man nicht anfangen soll, in Dingen herumzukramen, über die niemals gesprochen wird", sagt er heute. Nur einmal hat er seine Mutter direkt gefragt, wer denn sein richtiger Vater sei; sie fuhren auf dem Velo von einem Besuch bei der Grossmutter nach Hause, erinnert er sich, und "sie wurde unglaublich wütend. Warum zum Teufel ich das aufrühren müsse! Das ginge mich gar nichts an!"

Arne Oland ist "tyskerbarn", ein 'Deutschenkind', geboren im November 1945. Erst mit 48 Jahren erfuhr er durch einen Zufall, dass sein Vater ein Besatzungssoldat war; es war an einem Vettern-Kusinen-Treffen. Er stellte seine alte Mutter zur Rede und sie gab zu, dass sein Vater Wehrmachtsangehöriger gewesen sei, ein Jugoslawe, der als Zwangsverpflichteter nach Dänemark versetzt worden war; sie habe ihn in der Jægersborg Kaserne kennengelernt, wo sie in der Küche arbeitete, und hätte versucht, das Kind (Arne also) abzutreiben, es aber nicht geschafft, und nach dem Krieg sei sie als "tyskertøs", als 'Deutschendirne' acht Monate lang im Gefängnis gewesen. Es ist ein Lebenslauf, nicht unüblich für jene Zeit, und auch Arne Øland ist nicht allein mit seiner Biografie. Er selbst schätzt die Zahl der 'Deutschenkinder' in Dänemark auf mindestens 12'000.

In seinem Buch "Horeunger og helligdage / Hurenkinder und Feiertage", das letzten Herbst in Dänemark herauskam (Det Schönbergske Forlag 2001), erzählt er seine Geschichte und die von zwölf anderen 'Deutschenkindern'. Alle Interviewten erzählen vom quälenden Gefühl, nicht zu wissen, wer man wirklich ist, erzählen von der Schande und Scham, die ihr Leben noch immer überschatten, und vom starren Schweigen, das ihnen begegnete, sobald sie an ihre Wurzeln rührten, auch und gerade von Seiten der eigenen Mutter. Und einige erzählen auch von Repressionen. Einer hörte als Kind, wie Nachbarn sagten, man würde ihn am besten im Fjord versenken, weil "er nichts sei, was aufgehoben werden sollte"; einer wurde vom Lehrer systematisch geplagt und übergangen und hatte keine Chance, wirklich etwas zu lernen, ein dritter wurde von Erwachsenen immer wieder "Nazischwein" genannt und einmal hat der Hausbesitzer ihn im Treppenhaus festgebunden und einen Scheisseimer über ihm ausgeleert. Manche wuchsen bei den Grosseltern auf, und viele versuchten später vergebens, ihren Vater zu identifizieren, ihn oder seine Verwandten noch zu finden, kennenzulernen, und stiessen dabei nicht nur auf das Schweigen der jeweiligen Familie, sondern auch auf Behörden, die sie abwimmelten und ihnen die Einsicht in ihre Akten verwehrten.

Zwar gab es in Dänemark seit 1938 ein Gesetz, das unehelichen Kindern denselben Status wie ehelichen zugestand, doch es wurde mit Rücksicht auf die Nazis ausgesetzt. Eine bilaterale Kommission unter deutschem Vorsitz hat während des Krieges versucht, die Väter der (ihnen bekannten) Kinder von dänischen Müttern ausfindig zu machen und dazu zu bewegen, die Vaterschaft anzuerkennen: Deutschland war nämlich durchaus stolz auf den 'arischen' Nachwuchs, den Wehrmachtsangehörige in Skandinavien zeugten, sie bezahlten sogar Unterhaltsvorschüsse, doch zogen viele dänische Mütter es vor, sich bei der Kommission gar nicht erst zu melden, und versteckten oder verschwiegen ihre "Kinder der Schande". Und nach dem Krieg hatte der dänische Staat dann kein Interesse mehr daran, dänisch-deutsche Familienzusammenführungen zu ermöglichen; die Namen der deutschen Väter in den offiziellen Akten wurden eliminiert und diese in Archiven versenkt.

Die dänischen Politiker meinten wohl, damit das Problem zu entschärfen; und die Frauen hofften, durch ihr Versteckspiel dem Verdacht auf Landesverrat, Stigmatisierung und Repression entgehen zu können, der sie als "Feldmatratzen" deutscher Soldaten traf. "Tyskertøser", 'Deutschendirnen' galten in dem besetzten Land ja als Überläuferinnen, ihr privates (Liebes)Verhältnis zu einem Deutschen als Fraternisierung, als "horizontale Kollaboration" (Theweleit), "als nationale, sexuelle und geschlechtsmässige Provokation", wie die Historikerin Anette Warring in ihrer Untersuchung "Tyskertøser" (Gyldendal 1994 u.ö.) schreibt: "Das intime Verhältnis dänischer Frauen zu Wehrmachtsangehörigen galt nicht nur als antinationale Handlung, sondern gleichzeitig als Angriff auf die für Frauen geltenden Geschlechternormen", und die öffentliche Reaktion darauf war "eine Mischung aus Verärgerung über die sexuelle Freizügigkeit der Frauen, Wut über ihr unpatriotisches Verhalten und auch Kränkung darüber, dass sie dänische Männer verschmähten und ihnen deutsche Soldaten vorzogen". Es wurden ihnen niedrige Beweggründe, Profitsucht etwa, unterstellt, pauschal wurden sie als "dumm, hässlich und leichtsinnig" charakterisiert und als politisch naiv, als 'zweite Wahl' sozusagen, sogar in offiziellen Untersuchungen (z.B. der Ärztin Grethe Hartmann 1943-45), und nach dem Krieg wurden viele von ihnen von erbosten Mitbürgern gejagt, öffentlich nackt ausgezogen, an den Pranger gestellt, geschoren und/oder vom Staat interniert, angeblich, damit sie ihre Geschlechtskrankheiten nicht weiter übertragen konnten – ein Selbstjustiz-Vorgang, den Klaus Theweleit als brachiale Möglichkeit der "Gerechtigkeitsherstellung in der Psyche geschlagener Nationen" beschreibt und als Versuch der "Reinigung vom Vorwurf ungenügenden eigenen Widerstands während der Besatzungszeit" (nachzulesen ist das in seinem Vorwort zu Ebba D. Drolshagens Buch "Nicht ungeschoren davonkommen", Hoffmann & Campe 1998, in dem er den "nationalen Körper" der Frau thematisiert und seine Funktionalisierung in Kriegs- oder Umbruchzeiten).

Weil viele Mütter ihr Verhältnis zu Deutschen zu verbergen suchten, wuchsen manche der offiziell 6-8'000 dänischen (und offiziell gut 8'600 norwegischen) 'Deutschenkinder' in Ungewissheit ihrer biologischen Herkunft auf und in wechselnden Familienzusammenhängen. Die Schauspielerin Lotte Tarp hat es stellvertretend beschrieben in ihrem autobiografischen Buch "Det sku' nødig hedde sig / So etwas soll bloss nicht gesagt werden" (Lindhardt & Ringhof 1997, u.ö.): sie hielt ihre Mutter Åse lange Zeit für die ältere Schwester. Åse hatte ihr 1945 geborenes Kind in ein Kinderheim gesteckt, wo die Pfleger es vernachlässigten und beinahe umkommen liessen; eine Tante holte es heraus und brachte es zu den Grosseltern. Bei ihnen in Jütland wuchs die kleine Lotte auf, trug ihren Namen, nannte sie Vater und Mutter und verstand nicht, warum die Kinder in der Schule sie plagten und schnitten und ihr 'Deutschenkind' nachriefen. Aber manchmal kam die schöne Åse zu Besuch, sie lebte jetzt in Kopenhagen und arbeitete beim Film, das waren Festtage, und schliesslich holte sie die "kleine Schwester" sogar zu sich und zu ihrem reichen neuen Mann in die Grosstadt, doch der neue Vater brachte die Ziehtochter bald in einem Pensionat unter. Eine unruhige, verunsichernde, wenn auch nicht ganz lieblose Kindheit und Jugend hat Lotte Tarp also erlebt, es ist zurückblickend, wie sie schreibt, ein Gefühl, "als ob ich ein Ding gewesen wäre oder ein Möbelstück, das man falsch eingekauft hat und für das man nie den richtigen Platz gefunden hat, bis man es schliesslich auf den Müll geworfen hat", und erst spät, durch Zufall und auf Umwegen fand sie heraus, wer ihre wirklichen Eltern waren. Sie machte sich auf die Suche nach dem deutschen Vater und traf in Eberswalde schliesslich zwar nicht mehr auf ihn selbst, aber doch auf seine "ungewöhnlich gewöhnliche Familie".

Norwegen: Lebensborn

Lotte Tarps Buch war der erste Lebensbericht eines dänischen 'Deutschenkindes'. Es erschien bisher in vielen Auflagen und ich hätte es diesen Winter in Kopenhagen noch als Hardcover, als Paperback, als Hörbuch und als Buchclubausgabe kaufen können. Es ist sehr bekannt, weil es sein Thema auf einen Schlag etabliert und eine breite Diskussion über das bisher Tabuisierte eingeleitet hat. Etwas Ähnliches war in Norwegen schon ein Jahrzehnt früher geschehen, und zwar auch mit einem Lebensbericht: dem Buch "Skammens barn / Kind der Schande" (Metope 1986 u.ö.), das die Journalistin Veslemøy Kjendsli über das Schicksal des Lebensborn-Mädchens Turid/Elke verfasst hatte.

Im besetzten Norwegen hatte sich – anders als Dänemark – eine Unterabteilung der SS-Organisation Lebensborn e.V. offiziell um die Kriegskinder und ihre Mütter gekümmert. Ziel des Vereins war es, durch die gezielte Unterstützung kinderreicher Familien, schwangerer Frauen und unverheirateter Mütter die Zunahme jener Bevölkerungsgruppen zu erleichtern, die als rassisch wertvoll galten. In Norwegen wurde Lebensborn unter dem Slogan "Efter sejren på slagmarken følger sejren i vuggen / Dem Sieg im Felde folgt der Sieg in der Wiege" bekanntgemacht; das Land war das einzige ausserhalb Deutschlands, wo die Organisation die bürokratische Kontrolle über die Kriegskindergeburten innehatte und Mütter und Kinder finanziell auch unterstützte (während des Krieges mit umgerechnet insgesamt 2 bis 3 Millionen Franken): sich also als eine Art sozialer Institution betätigte und nicht als straffe "Zuchtanstalt" aktiv war, wie vor kurzem wieder in einem Fernsehfeature behauptet wurde ("Himmlers Kinder", arte, 7. Januar 2002). Es gab zwölf Lebensbornheime in Norwegen mit ausschliesslich deutschem Personal, dazu wurden auch Plätze in lokalen Heimen belegt; in den Lebensborn-Akten sind "mit deutscher Gründlichkeit", wie Veslemøy Kjendsli schreibt, gut 8'600 'Deutschenkinder' registriert; der Historiker Kåre Olsen (der mit "Krigens barn / Kinder des Krieges", Forum Aschehoug 1998, die erste umfassende Untersuchung zum Thema veröffentlicht hat) schätzt ihre Zahl jedoch auf mindestens 14'000 und Ebba D. Drolshagen sagte mir im Gespräch, sie halte sie für noch höher – immerhin waren 400'000 oder (je nach Quelle) gar 500'000 deutsche Soldaten in Norwegen stationiert.

Manche der Lebensbornkinder wurden von ihren Müttern im Heim zurückgelassen. Etwa 250, schätzt das norwegische "Krigsleksikon / Kriegslexikon" (Cappelen 1995 oder über http.//norgeslexi.com/krigslex/krigslex.html) in seinem Artikel über "Lebensborn", wurden nach Deutschland gebracht und dort Pflegeeltern übergeben; nach dem Krieg jedoch sah sich Norwegen gezwungen, diese Kinder wieder zurückzuholen, weil sie laut Völkerrecht noch immer die Nationalität der leiblichen Mutter hatten, also Norweger waren – selbst wenn sie inzwischen in ihrer deutschen Familie integriert waren und kein Wort norwegisch konnten.

Dieses Schicksal hatte auch die 1942 geborene Turid, das norwegische Lebensbornkind Nummer 2022, deren Geschichte Veslemøy Kjendsli 1986 veröffentlichte. Sie war von ihrer Mutter im Heim zurückgelassen und von den Deutschen als einer Adoption nach Deutschland "würdig" befunden worden. Sie kam 1944 in das sächsische Lebensbornheim "Sonnenwiese" in Koren-Salis und von da zu einer Familie Schneider in München, die sie Elke nannte. Mit der neuen Mutter und den beiden Stiefbrüdern wurde sie 1945 vertrieben, die vier landeten in Sottrum in der Nähe von Hannover, wo der Vater wieder zu ihnen stiess und wo die Heilsarmee, die die norwegischen 'Deutschenkinder' im Auftrag der UNNRA, einer Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, in ihre Heimat zurückbringen sollte, das Mädchen 1948 aufspürte. Elke kam mit einem Kindertransport im Bus zurück nach Norwegen, lebte eine Weile im Kinderheim in Nittedal und wurde dann von einem kinderlosen norwegischen Ehepaar in Pflege genommen und später adoptiert. Erst mit dreizehn Jahren erfuhr Turid (wie sie jetzt wieder hiess), dass ihre "Eltern" nicht die leiblichen Eltern waren – sie hatte ihre ersten sechs Lebensjahre aus dem Gedächtnis verloren; geblieben waren ihr nur die Erinnerung an einen Lehnstuhl, eine unerklärliche Furcht vor Pferden und ein leises Hinken.

Turid hatte dann lange Jahre nicht die Kraft und sah keine Möglichkeit, ihrer Lebensgeschichte nachzugehen; sie litt aber zunehmend unter Angstzuständen und grosser Unsicherheit. Erst 1986, nach einer Radiosendung von Veslemøy Kjendsli über norwegische 'Deutschendirnen' und deren Kinder, wurde ihr bewusst, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleine war. Unterstützt von der Journalistin begann sie, beim norwegischen Reichsarchiv ihre Akte einzufordern und zu studieren; sie erfuhr den Namen ihrer leiblichen Mutter, dass sie gleich nach dem Krieg wieder geheiratet hatte und von ihrem Kind nichts mehr wissen wollte, und sie konnte auch den Namen ihres leiblichen Vaters eruieren, der Schuhmacher gewesen war und in der DDR leben würde, lebte er noch. Und sie erfuhr schliesslich auch von ihrem Aufenthalt bei der Familie Schneider, die sie Elke genannt hatte, und es gelang ihr, 38 Jahre nach der überfallartigen 'Entführung' aus dieser Pflegefamilie, die damaligen 'Eltern' ausfindig zu machen. Sie hat sie besucht – es gibt Fotos von dem Treffen in dem Buch – und konnte endlich Teile der Bewusstseinslücke schliessen, die ihre ersten Lebensjahre betraf.

Turids/Elkes Geschichte mit dem etwas pompösen Untertitel "Der Krieg gab ihr das Leben, stahl ihr aber die Identität" löste Mitte der 80er Jahre in Norwegen "einen ungeheuren Skandal aus", wie Ebba D. Drolshagen sich erinnert: es berührte ein sehr dunkles, ein gerne verschwiegenes Kapitel norwegischer Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Norwegen tat sich nämlich noch sehr viel schwerer als Dänemark mit dem Erbe an 'Deutschenkindern'; man begegnete ihnen mit Rachlust und unverhohlenem Misstrauen, weil man sich vorstellte, dass sie das Erbgut ihrer Väter noch in sich hatten und zu einer Art "Fünften Kolonne" heranwachsen könnten – 1948 hat man einer australischen Delegation, die nach Auswanderungswilligen anfragte, allen Ernstes diese Kinder angeboten (was die Australier allerdings dankend ablehnten).

Die Suche nach spätem Recht

Vor allem im Umfeld des Prozesses, den drei Gruppen von 'Deutschenkindern' im letzten Jahr gegen den norwegischen Staat anstrengten, sind grausame Tatsachen ans Licht gekommen. Manche der Kinder waren sowohl von Mitbürgern wie auch von staatlichen Stellen heftigen Repressionen ausgesetzt - eine Frau berichtet, dass sie in der Schule täglich "in die Dreckpfützen getaucht wurde", weil sie ein "Deutschenschwein" sei, ihr wurde immer wieder die Brille zerbrochen und die Räder des Puppenwagens zerstochen (zit. in einem Artikel in "Klassekampen", 2.11. 2001), eine andere fühlte sich geradezu als "Freiwild": "Daheim versuchten die Pflegeeltern, ihr das 'deutsche Blut' auszuprügeln. Zum Spielen wurde sie vor dem Haus zusammen mit dem Hund angekettet, anderen Kindern der Kontakt zu ihr verboten. Immer wieder wurde sie als 'Hurenkind' und 'Nazischwein' beschimpft. Damit nicht genug: Als ihr ein angetrunkener Angler einmal mit einem rostigen Nagel ein Hakenkreuz in die Stirn ritzte, schauten andere Leute teilnahmslos zu. Ein anderes Mal jagte ihr ein Zahnarzt den Bohrer direkt ins Zahnfleisch, damit sie spüren könnte, wie die Deutschen die 'guten Norweger' gefoltert hätten." Und als im Erdkundeunterricht das Thema Deutschland behandelt wurde, habe der Lehrer das Mädchen aufgefordert, sich aufs Podium zu stellen, damit die anderen Schüler sehen könnten, wie "hässlich, dumm und böse" die Deutschen seien (Zitate aus dem Artikel von Marc-Christoph Wagner, "Rheinischer Merkur" 7.12.2001). Manche 'Deutschenkinder' wurden nach dem Krieg in Heime für geistig Behinderte gesteckt und blieben da teilweise bis über die Volljährigkeit hinaus; dort sollen sie unter anderem auch militärischen Experimenten mit LSD ausgesetzt worden sein.

Die Repressionen waren nicht zufällig, keine vereinzelten bösen Ausrutscher, und Staat und Kirche schauten weg – auch wenn bei weitem nicht alle der mindestens 10-12'000 norwegischen 'Deutschenkinder' ihnen ausgesetzt waren (wie das in der schon zitierten "arte"-Sendung behauptet wurde): sie waren die "schlimme Spitze eines sehr sehr breiten Eisbergs", wie Ebba D. Drolshagen es formuliert, und sie trafen vor allem die "ungeschützten Kinder": diejenigen, die von der leiblichen Mutter oder deren Familie nicht geschützt wurden und in keiner guten Pflege- oder Adoptionsfamilie, keinem verständnisvollen Umfeld Zuflucht fanden. Aber es gab im Norwegen der Nachkriegszeit schon heftige antideutsche Ressentiments, eine Menge Rachlust und Denkweisen, die durchaus als rassistisch bezeichnet werden können. Alle Deutschen seien damals gleichgesetzt worden mit dem Teufel und das Wort "deutsch" sei für sie ein Synonym gewesen für "böse", erzählt Inger, eine Bekannte, die die Kriegs- und Nachkriegsjahre als Kind in Lillehammer erlebt hat: ihr sei zum Beispiel verboten worden, mit Deutschen zu sprechen oder auch nur nett zu ihnen zu sein. Und wenn jemand als 'Deutschendirne' oder 'Deutschenkind' bezeichnet worden sei, dann "war das das Schlimmste, schlimmer als aussätzig". Das habe jeweils die ganze Familie stigmatisiert. Man habe als Kind einfach Glück gehabt, wenn man in eine Familie gehörte, die auf der richtigen Seite (gewesen) war...

Wenn man von heute aus, gerade auch als Historikerin, auf diese Zeit zurückschaue, sagt Anette Warring, dann müsse man diesen damaligen "Zeitgeist" wahrnehmen und in die Wertung der Funde einzubeziehen versuchen: die aufgestaute Wut nach den langen Jahren der Unterdrückung, die Ohnmacht und das vereinfachende, erleichternde Freund-Feind-Denken, das keine Differenzierungen zuliess, kaum Gnädigkeit und zu selten die Einsicht, dass etwa die 'Deutschenkinder' doch vollkommen unschuldig waren an ihrer Situation. Denn durchaus als rassistisch zu bezeichnendes Denken war damals nicht nur bei Nationalsozialisten üblich: in Norwegen (und auch in Dänemark) etwa die Vorstellung, dass 'Deutschenkinder' kein 'reines' Blut mehr hätten und dadurch eine Gefährdung darstellten für den "Volkskörper". – Das entschuldige natürlich keinen der Übergriffe, sagt Anette Warring; aber es erkläre wenigstens deren Ursprung etwas und auch die Tatsache, dass diese kaum je verhindert, kritisiert oder gar juristisch geahndet wurden.

In seiner Ansprache zur Jahrtausendwende hat sich der norwegische Staatsminister Bondevik im Namen des Staates inzwischen wenigstens pauschal für alles entschuldigt, was 'Deutschenkindern' angetan worden ist, und am 9. Oktober 2000 hat Bischöfin Rosemarie Köhn in der Domkirche von Hamar dasselbe für die norwegische Kirche getan (die sich während des Krieges in einen deutschfreundlichen und einen deutschfeindlichen Flügel aufgespalten hatte). Das reicht manchen ehemaligen Lebensbornkindern aber bei weitem nicht: unterstützt von der Anwältin Randi Hagen Spydevold haben etwa 120 "tyskerbarn" Klage gegen den norwegischen Staat erhoben. Sie werfen ihm Diskriminierung vor, Misshandlungen und Schädigung und fordern eine Wiedergutmachung. Bisher hatten sie damit allerdings noch keinen Erfolg: Mitte November 2001 hat das Stadtgericht Oslo eine erste Klage in erster Instanz abgelehnt mit der Begründung, mögliche Schadensersatzansprüche seien nach norwegischem Recht verjährt und "es gebe an einer Entscheidung – vor allem das verbittert die Kläger – kein übergeordnetes rechtliches Interesse. Verfehlungen vor 1953 [...] sind nach Auffassung des Gerichts schon deshalb nicht zu verfolgen, weil die Anspruchsgrundlage, die Europäische Menschenrechtskonvention, für Norwegen erst nach dessen Beitritt im Jahr 1953 gilt" (FAZ vom 14. Dezember 2001).

Die Anwältin wird Berufung einlegen. Weitere Prozesse sind hängig. Die meisten norwegischen 'Deutschenkinder' distanzieren sich jedoch von ihnen - sogar jene, die sich in der Interessegruppe "Norsk krigsbarns forening" (Vereinigung norwegischer Kriegskinder) seit 1986 organisiert haben, einem Verband, der ihnen Anleitung gibt bei der Suche nach ihren Akten in Archiven und ihnen in einer Art Selbsthilfegruppe auch Rückhalt vermittelt und das Gefühl, nicht länger allein und ohne Identität zu sein.

Auch in Dänemark hat sich 1995, nach der Publikation von Anette Warrings Untersuchung und auf Initiative unter anderem von Arne Øland, eine entsprechende Vereinigung konstitutiert: "Dansk krigsbørns forening" (www.krigsboern.dk). Auch hier können Interessierte Informationen beziehen, Menschen mit gleichem Schicksal kennenlernen und angeleitet werden im Umgang mit relevanten Behörden und Amtsstellen, und das viermal im Jahr erscheinende Vereinsblatt "Rødder /Wurzeln" publiziert Lebensberichte, Fotos, minutiöse und sehr kritische Protokolle von Akteneinsicht(sversuch)en sowie Hinweise und Reaktionen auf Aktivitäten und Publikationen.

Die Stimme der Literatur

Die Quellen, die ich bisher zitiert habe, sind historische Untersuchungen, (auto)biografische Lebensberichte und Zeitungsartikel. Dazu kommen aber sowohl in Norwegen wie in Dänemark auch literarische Zeugnisse, fiktive Bearbeitungen der Themen 'Deutschendirne' und 'Deutschenkind'. Eine sorgfältige Darstellung dieses Korpus' hat die Skandinavistin Rebecca Wiemker in ihrer Lizentiatsarbeit "Verbotene Früchte der Fraternisierung" (Universität Kiel 1996) vorgelegt; sie zeigt, dass das Thema in der norwegischen Literatur schon in den ersten Nachkriegsjahren vereinzelt bearbeitet wurde, dass dann seit Anfang der 80er Jahre eine ganze Reihe von Publikationen dazu entstanden sind und meint, dass "deren Produktionswelle auch noch nicht abgeschlossen zu sein scheint". Am häufigsten taucht das Thema in der Erzählliteratur auf, auffallend oft in Jugendbüchern, zunehmend personifiziert auch in Nebenfiguren – so etwa in Jostein Gaarders "Kabalmysteriet / Das Kartengeheimnis", wo die kindliche Hauptfigur fast nebenbei auf einen deutschen Grossvater stösst.

Es liessen sich aber durchaus Unterschiede feststellen zwischen dem norwegischen und dem dänischen Zugriff. Die norwegische Literatur, so Rebecca Wiemker, behandle den Themenkomplex kontinuierlicher, intensiver und eher aufklärerisch/ergründend als die dänische, der Ton sei sachlich, differenzierend, mitunter polemisch (bei Jens Bjørneboe etwa), Erzähintention sei eine "intensive, appellative Suche nach Wirklichkeit, eng verbunden mit dem Blick auf (moralische) Gerechtigkeit". Dabei dominierten in den ersten Nachkriegsjahren erzählerische "Schlaglichter", Kurzgeschichten (etwa von Torborg Nedreaas in "Bak skapet står øksen / Hinter dem Schrank steht die Axt" oder Tarjei Vesaas' "Naken / Nackt"). Ab Mitte der 50er Jahre wird das Thema in realistisch-psychologischen Romanen aufgegriffen, die gesellschaftsanalytisch und -kritisch verfahren, ab Mitte der 70er werde eher eine individuelle Perspektive gewählt, ein Einzelschicksal beleuchtet (hierzu gehört u.a. Herbjørg Wassmos herausragende "Tora"-Trilogie, die auch auf deutsch erschienen ist), bis ab Mitte der 80er Jahre dann zunehmend dokumentarische und dokumentaristische Verfahren festzustellen seien. Die dänische Literatur dagegen behandle das Motiv eher "vordergründig darstellend", lockerer, humoristisch gelegentlich und gern auch mit exotischen und/oder kriminalistischen Elementen versetzt. Die Darstellungen verblieben dabei im Historischen, seien wenig individualisierte, klischierte Vignetten; erst in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren sei eine realistischere, häufig auch dokumentarische Bearbeitung des Themas festzustellen, meist in Romanen für Jugendliche.

Auch die literarische Darstellung von 'Deutschendirnen' oder 'Deutschenkindern' hat identitätsstiftend wirken können, das könnte an der Rezeption von Herbjørg Wassmos "Tora"-Trilogie (1981 f., dt. 1984 f.) gezeigt werden, dem wohl berühmtesten Exempel, das weit über eine dokumentarisch-realistische Umsetzung hinaus geht. Die drei Romane erzählen von Tora, die in einem nordnorwegischen Städtchen bei der Mutter und dem Stiefvater aufwächst; ihr Vater ist, wie sie erst spät erfährt, ein deutscher Soldat gewesen: und auch wenn sie damit endlich zu verstehen beginnt, warum sie ständig ausgeschlossen und geplagt wird, warum die Mutter so stumm und welk ist und der Stiefvater, der sie verachtet und schlägt und schliesslich vergewaltigt, so bösartig – helfen kann es ihr nicht. Sie hat zuletzt keine Kraft mehr. Als Kind "war [sie] wie die zerzauste Katze, welche die Jungen von Været zu Tode gequält hatten, weil sie keinem gehörte./ Sie hatten sie an einem Zaun gekreuzigt./ Die Katze schrumpfte ein. War zum Schluss nur noch Fell und Tatzen./ Die Krähen hackten ihr schon am ersten Tag die Augen aus. Tora überlegte oft, ob die Katze genauso gefühlt hatte wie sie, dass sozusagen kein Platz zum Weinen da war. Es war alles zum Zerplatzen gespannt, aber es kam nichts heraus. Es war alles zu eng." Und nach der Pubertät verliert sie sich zunehmend in einem Raum, der beherrscht wird von Einsamkeit, Wahnvorstellungen und einer beinahe erlösenden Selbstaufgabe.
 
 

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