Buchvorstellung "Tatort Familie"
Kriminalportal.de hat mit Priv.-Doz. Dr.
Jens Luedtke gesprochen, Mitarbeiter bei Prof. Lamnek am Lehrstuhl für
Soziologie II an der katholischen Universität Eichstätt. Er führte
gemeinsam mit Prof. Lamnek im Frühjahr 2003 die Untersuchung zum Thema
Gewalt in der Familie durch, auf die sich der empirische Teil des Buches
„Tatort Familie“ von Prof. Lamnek bezieht. Erfasst wurden dabei Familienhaushalte
in Bayern mit Kindern im Jugendalter.
Kriminalportal.de: Im Frühjahr 2004 erschien das Buch Tatort Familie zum Thema Häusliche Gewalt. Was verstehen Sie unter dem Begriff?
Jens Luedtke: Unter „Häuslicher
Gewalt“ versteht man in der Forschung allgemein Gewalt im Geschlechterverhältnis,
und zwar unter Intimpartnern, die zusammenleben. Das gilt aber – besonders
auch jetzt nach dem neuen Gewaltschutzgesetz von 2001 – auch für ehemalige
Partner, weil ein Teil der Gewalt auch hier ausgeübt wird.
K: Unterscheiden Sie dabei nach Geschlechtern?
L: Ja, für uns war natürlich
u.a. auch die Frage interessant, wer Täter, wer Opfer ist. Auch wenn
man da natürlich vorsichtig sein muss, weil wir nur die körperlichen
Formen der Gewalt erfassen konnten. Vor allem der ganze Bereich der psychischen
Gewalt fällt da natürlich raus, zum Beispiel Nötigung oder
der langwierige Prozess einer schleichenden Erniedrigung. Das heißt
natürlich auch, das der ganze Entwicklungsprozess, von uns nicht mit
erfasst werden kann. Also die Frage: Wie kann sich Gewalt im Verlaufe einer
Partnerschaft entwickeln? Eine andere Einschränkung ist, das wir Haushalte
in die Untersuchung einbezogen haben, in denen mindestens ein Kind ab 14
Jahre lebt. Das heißt, wenn eine Ehe schon mindestens 14 Jahre hält,
dann ist die Wahrscheinlichkeit, dort Gewalt vorzufinden, geringer, als
wenn die Ehe noch jünger ist. Vermutlich wird sich ein Teil derjenigen,
die einen schlagenden Partner hatten, bereits von ihm getrennt haben oder
von ihm (oder ihr) geschieden sein. Auch sind die Ehepartner älter,
wenn sie Kinder im Jugendalter haben, bei uns waren sie im Schnitt um die
44 Jahre. Aus der Forschung ist eine Zäsur bekannt, die besagt, das
bei 30 Jahren eine Grenze liegt, oberhalb derer Gewalt im Allgemeinen immer
seltener wird. Bei Paaren zwischen 20 und 30 kommt es häufiger zur
Gewalt als unter Partnern, die über 30 Jahre sind. Man wird ruhiger
mit der Zeit.
K: Was sind nun die Kernpunkte im Ergebnis
Ihrer Untersuchung?
L: Vorwegschicken möchte ich
da: Wir haben ein Problem in Deutschland, was das Thema häusliche
Gewalt angeht. Nämlich, dass es keine verlässlichen Daten gibt.
Die vorliegenden Untersuchungen sind entweder regional begrenzt oder gehen
nur über bestimmte Bevölkerungsgruppen. Es gibt bislang einfach
keine deutschlandweit repräsentativen Angaben über dieses Thema.
Vor zwei Jahren wurden vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zwei Repräsentativstudien in Auftrag gegeben, die
sich zum einen mit Gewalt von Männern gegen Frauen und zum anderen
mit Gewalt gegen Männer befassen. Die Ergebnisse sollen bis Spätsommer/Herbst
diesen Jahres vorliegen, wir dürfen gespannt sein. Es wäre für
Deutschland sinnvoll, so etwas zu einer regelmäßigen Einrichtung
zu machen.
Zu unseren Ergebnissen: Wir sind auf einen
vergleichsweise geringen Teil gewaltbelasteter Haushalte gestoßen,
nämlich auf nur sechs Prozent. Damit liegen wir leicht unter vergleichbaren
Studien, deren Ergebnisse so um die zehn bis sechzehn Prozent liegen. Aktuell,
also im letzten Monat vor der Befragung, war nur knapp ein Zehntel von
denen, die bereits Gewalt erfahren haben, Schlägen des Partners ausgesetzt.
K: Wie erklären Sie sich diese
Verschiebungen?
L: Dafür gibt es einige Erklärungen.
Zum einen unsere Art der Stichprobe: Wie eben schon genannt, ist es eine
Frage der ausgewählten Haushalte, der Ehedauer, etc. Mit anderen Worten,
eine Ehe, die so lange hält, ist prinzipiell weniger gewaltbelastet.
Eine andere Erklärung könnte im Telefonverhalten zu suchen sein.
Vielleicht befand sich unter denen, die ein Interview abgelehnt haben,
ein großer Anteil „Schlagender“, die einfach als sie das Thema gehört
haben, aus Angst, sich „outen“ zu müssen, gesagt haben, nein, mit
uns nicht. Aber das sind eben nur Spekulationen.
K: Wie sehen denn die Ergebnisse im
Einzelnen aus?
L: Dazu gibt es zwei Dinge zu sagen.
Insgesamt gibt es mehr männliche Täter, in Relation von 60 zu
40 Prozent. Interessant ist dann die Struktur der Gewalt, also die Frage
nach einseitiger oder beidseitiger Gewalt, wenn z. B. der Gewalt Gegengewalt
folgt. Insgesamt hat sich in gut 60 Prozent der gewaltbelasteten Partnerschaften
nur einer der Partner zugeschlagen.
Bei der Frage nach dem Geschlecht stellen
wir fest, dass hier das Verhältnis ziemlich genau umgekehrt ist: Bei
Fällen einseitiger Gewalt waren 60 Prozent der Opfer Männer.
Das heißt, als diese Männer geschlagen worden sind, haben sie
sich nicht körperlich gewehrt. Dahinter mag eine Art von „Ritterlichkeit“
stehen - nach dem Motto: Frauen schlägt man nicht -, es mag auch sein,
dass die Schläge ihrer Partnerin als wenig gravierend empfunden wurden
oder sie bei ihnen keinen großen Schaden hervorgerufen haben. Von
allen angewandten Formen der Gewalt sind knapp drei Viertel „nur“ Ohrfeigen.
Nun sollte man die negative Qualität einer Ohrfeige nicht gering setzen.
Die kann, sowohl vom Psychischen her als auch von der körperlichen
Auswirkung, schlimm genug sein. Andere Gewaltformen waren: Tritte (in einem
Drittel der Fälle), Faustschläge (ein Zehntel), und Schläge
mit einem Gegenstand (ein Sechzehntel). Bei der Kombination kamen am Häufigsten
Schläge und Tritte vor.
K: War eine chronologische Erfassung
möglich?
L: Nein, aber wir haben zum Beispiel
nach den Gründen gefragt, also dem, was der Gewalt üblicherweise
vorausgeht, was sie auslöst. Der bei weitem häufigste Grund war
eine affektuelle Reaktion. Drei Viertel der Gewaltanwender haben gesagt,
sie haben sich über ihren Partner geärgert oder waren wütend.
Gut die Hälfte war hilflos und wusste sich nicht mehr anders zu helfen.
Gerade affektuelle Reaktionen kamen bei Frauen sehr viel häufiger
vor. Immerhin ein Viertel der gewalttätigen Partner schiebt die Schläge
auf vorausgegangenen Alkoholkonsum. Das geben mehr Männer als Frauen
an,
aber die Zahlen sind zu klein, um eindeutige Unterschiede festzustellen.
Immerhin 40 Prozent der Opfer dachten bereits daran, den Partner wegen
der Gewalt zu verlassen, überwiegend Frauen; 60 Prozent der geschlagenen
Frauen und 25 Prozent der geschlagenen Männer haben sich entsprechende
Gedanken gemacht.
K: Wurde von den Betroffenen Hilfe gesucht?
L: 40 Prozent der Betroffenen setzten
sich gar nicht zur Wehr. Die anderen haben ihre Partner angeschrien (mehr
als die Hälfte), ihn ausgelacht (ein Viertel) oder zurück geschlagen
(weniger als ein Fünftel).
Nur ein Sechstel der Betroffenen hat überhaupt
fremde Hilfe gesucht. Diese Hilfe gaben meist Freunde, Eltern oder auch
Beratungsstellen beziehungsweise Frauenhäuser.
Aktuell wäre anzumerken, dass die
Möglichkeit der Polizei, Platzverweise auszusprechen (dank des neuen
Gewaltschutzgesetzes), bei unserer Klientel keinen Sinn machen würde,
da die Polizei überhaupt nur in einem Fall benachrichtigt wurde. Für
diese Gruppe käme wohl eher ein häufigerer Gang zu Beratungs-
und evtl. zu Interventionsstellen in Frage, für deren beider Ausbau
wir plädieren würden – vor allem im Interesse der Opfer - weiblicher
als auch männlicher. Und nicht zu vergessen: die Kinder, die zumindest
Opfer durch Nähe werden. Um ihnen weitere Gewalt zu ersparen, müssen
sich Täter und Täterinnen ändern.
K: Vielen Dank für das Gespräch.
zur Hauptnachricht
Was heißt häusliche Gewalt?
Hilfe für Betroffene – wo kann ich
mich hinwenden?
Frauenhaus – Hilfe zur Selbsthilfe
Was kann ich tun, um Gewalt zu stoppen?