Jugendamt wehrt sich gegen massive Vorwürfe der Eltern der entführten Mädchen

Ein Komplott der Behörden?

MAIN-TAUBER-KREIS · Wie kann es weitergehen im Fall der flüchtigen Familie Lorenz? Bisher gibt es immer noch keine Spur von den entführten Mädchen.

VON HEIKE V.BRANDENSTEIN

Seit Heiligabend sind die in Stuppach wohnhaften Eltern Hans-Peter und Hilde Lorenz mit ihren drei Kindern Evelyn (17), Eyka (15) und Erina (12) untergetaucht. Die Eltern, denen am 20. September des vergangenen Jahres auf Beschluss des Amtsgerichts Bad Mergentheim das Sorgerecht für die Kinder entzogen worden war, hatten ihre drei Mädchen unerlaubt aus den Kliniken in Heidelberg und Heilbronn abgeholt, wo sie wegen starker bis extremer Kachexie (starke Ausgemergeltheit durch den Rückgang der körperlichen Substanz) behandelt wurden.

Seitdem wird das Ehepaar Lorenz wegen Kinderentziehung mit internationalem Haftbefehl gesucht. Bundesweit Aufsehen hat der Fall Lorenz nicht nur wegen der spektakulären Kinderentziehung geweckt, sondern auch wegen der harschen Vorwürfe, die der Rechtsanwalt der Familie, Thomas Eschle aus Stuttgart-Vaihingen, sowie der Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft zur Verwirklichung der Rechte des Kindes, Otto Brandner aus Güglingen, dem Jugendamt des Main-Tauber-Kreises machten.

Von einem  Verstoß gegen die Menschenwürde  wurde wegen der Trennung der Mädchen während des Klinikaufenthaltes gesprochen. Zudem wurde die Einweisung der Kinder in eine Jugendpsychatrie in Frage gestellt.

Am Dienstag nun strahlte Pro Sieben in seinem Mittagsmagazin "s.a.m." und im Boulevardmagazin "taff" jeweils einen Beitrag aus, in dem Vater Hans-Peter Lorenz Gelegenheit gegeben wurde, seine Sicht der Dinge darzustellen. Lorenz sprach von einem Komplott der Behörden, die nicht in der Lage seien, einen Fehler einzugestehen und das Wohl der Kinder sträflich missachtet hätten.

Besonders klagten die Kinder an, dass man ihre Schulkarriere zerstört habe. Die drei Mädchen, so Vater Lorenz, hätten ein ungeheures Erholungsbedürfnis. Die 15Jährige Eyka, telefonisch von Pro Sieben nach ihrem Ziel gefragt: "Dass ich immer bei meiner Familie bleiben kann."

Den Vorwürfen von Hans-Peter Lorenz stehen die Aussagen des Jugendamtes gegenüber. Nach Aussage des Pro Sieben Sprechers im Beitrag wollte sich die Behörde nicht öffentlich äußern.

Jugendamtsleiter Franz Pfisterer widersprach dieser Behauptung gestern auf Anfrage der Main-Post. "Uns lag lediglich eine Fax-Anfrage vor und die war so kurzfristig, dass bis zur Ausstrahlung des Beitrages keine Zeit blieb." Ein Telefonat mit ihm habe nicht stattgefunden. Überhaupt sieht sich das Jugendamt den Vorwürfen ungerechtfertigt ausgesetzt und letztlich keinen Anlass, sich zu rechtfertigen. "Das Kindeswohl ist die Maxime unseres Handels auch im Fall Lorenz", so Franz Pfisterer.

Dabei habe sich das Jugendamt an die im Grundgesetz (GG), im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) und im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) verankerten Richtlinien gehalten. Überdies hätte sich der Allgemeine Soziale Dienst (ASD)  ständig um eine Kooperation mit der Familie bemüht , so Martin Frankenstein, Leiter des ASD beim Jugendamt Main-Tauber. Ab dem 10. Mai 2000 sei das Jugendamt Main-Tauber wegen des Wohnsitzwechsels der Familie Lorenz in Nachfolge des Jugendamtes Heilbronn vom Amtsgericht Bad Mergentheim zum Ergänzungspfleger für das Aufenthaltsbestimmungsrecht bestellt worden.

"Am 23. Mai hatten wir erste Kontakte mit den Lehrern, weil Erina in der Schule fehlte", beschreibt Franz Pfisterer die Bemühungen seines Amtes. Bekannt war bis dahin, dass Erina vom 20. 6. 1997 bis zum 20.08.1999 nicht die Schule besucht hatte, die beiden älteren Geschwister Eyka und Evelyn ab dem 1. Juli 1997 nicht mehr am Unterricht teilgenommen hatten. Im Main-Tauber-Kreis besuchte die Jüngste dann die Grundschule in Stuppach, die beiden älteren Geschwister das Weikersheimer Gymnasium.

"Eine Bereitschaft zur Kooperation von unserer Seite war immer da, aber die Vorstellungen der Familie Lorenz waren mit unseren zum Wohl des Kindes nicht vereinbar", so Martin Frankenstein.

Nach Kontakten des ASD zu Lehrern, dem Staatlichen Schulamt, einem Kinderarzt und dem Gesundheitsamt ging im September des vergangenen Jahres dann alles ganz schnell: Das Familiengericht wurde "zur Abwendung einer Gefährdung des Wohles des Kindes. . ."  angerufen. Die 17 Jährige Evelyn wog damals 28,8 Kilogramm, die 15 Jährige Eyka 32,6 Kilogramm und die zwölfjhrige Erina 24,8 Kilogramm.

Mit Beschluss vom 26. September wurde den Eltern das Sorgerecht  einstweilen entzogen  und das Jugendamt zum Vormund bestellt. Bereits einen Tag später wurden die Kinder aus der Familie genommen und in der Kinderklinik Bad Mergentheim untersucht, wo "lebensbedrohliche Umstände"  festgestellt wurden.

Es folgte die Unterbringung in den Kliniken Heidelberg und Heilbronn. Nachdem sich der Gesundheitszustand der beiden jüngeren Mädchen vor Weihnachten stabilisiert hatte, sollten sie nach den Feiertagen in psychiatrische Kliniken verlegt werden.

Rechtsanwalt Thomas Eschle, der nach eigener Aussage zur Zeit keinen Kontakt zu seinen Mandaten hat, hofft, dass sich die Familie Lorenz sobald wie möglich stellt, weil er dann rechtlich mehr Möglichkeiten hat und auch die Sympathien der Öffentlichkeit nicht verloren gingen.

Auch Oberstaatsanwalt Harald Stephan appelliert an die Familie, sich zu stellen, weil die Strafe (bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bei Kindesentzug) für das Ehepaar immer höher werde, je risikoreicher sich die Situation der Kinder gestalte. Zudem warnte er davor, der Familie finanzielle Hilfen zukommen zu lassen, da dies ebenfalls strafbar sei.

Otto Brandner plädiert ebenfalls dafür, dass die Familie schnell wieder auf der Bildfläche erscheinen möge, um den "Kampf mit rechtsstaatlichen Mitteln weiterzuführen". Dennoch wartet er mit harschen Vorwürfen gegen das Jugendamt auf: 80 Prozent der Behauptungen des Jugendamtes stimmten nicht und seien widerlegbar, der Sorgerechtsentzug habe "von hinten herum" stattgefunden, als die Kinder sich gesundheitlich bereits auf dem aufsteigenden Ast befunden hätten.

Zudem, so Brandner, hätte in den Krankenhäusern eine Menschenrechtsverletzung stattgefunden, weil die Kinder  verunsichert, gedemütigt und in die Ecke getrieben  worden seien. Die Älteste, so Brandner, sei gar operiert worden, ohne zu erfahren aus welchem Grund.

Der Leiter des Jugendamtes will sich mit diesen Vorwürfen nicht auseinander setzen. Schließlich habe das Jugendamt seit seiner Zuständigkeit am 10. Mai viel unternommen. Jetzt ginge es um dringend notwendige therapeutische Maßnahmen, die für die Familie vielleicht nicht einfach seien. Einsame Entscheidungen aber treffe das Jugendamt nicht, so Pfisterer und Frankenstein. "Bei uns ist ein ganzes Team mit einbezogen und dem Familiengericht sind wir rechenschaftspflichtig."
 

Donnerstag, 11.01.2001
Main-Tauber-Kreis