"Kein Land tut genug für seine Nachkommen"

Vor dem Weltkindertag am kommenden Freitag

Von MARTINA FIETZ
Bonn - "Die Menschenrechte sind auch Rechte der Kinder. Diese haben kein Sonderrecht, können aber bei der Einhaltung der Menschenrechte dieselben Anforderungen stellen wie die Erwachsenen." Ihrer grundsätzlichen Analyse mußte Marta Santos Pais vom UN-Komitee für die Rechte des Kindes gestern allerdings die Einschränkung anfügen, daß vielerorts dies nur Lippenbekenntnisse seien. Obwohl 187 Staaten die UN-Konvention über die Rechte des Kindes unterzeichnet hätten, tue "kein Land genug" für seine Nachkommen.

Vor diesem Hintergrund wurde der Weltkindertag, der am Freitag begangen wird, unter das Motto gestellt "Kinder haben Rechte". Mißachtet werden sie nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) weltweit. So arbeiteten mehr als 100 Millionen Kinder unter Bedingungen, die ihre Gesundheit schädigten und keine Zeit für einen Schulbesuch ließen. Gravierend seien die Folgen ausbeuterischer Kinderarbeit in Bergwerken, Teppichmanufakturen, Plantagen und beim Straßenbau. Von undifferenzierten Boykottdrohungen hält Unicef allerdings nichts. Die Vorsitzende der Kinderhilfsorganisation Terre des hommes, Petra Boxler, ergänzte gestern, mit der Bekämpfung der Kinderarbeit dürfe nicht die der arbeitenden Kinder einhergehen. Wenn das Einkommen der Eltern nicht ausreiche, müßten die Kinder mitverdienen. Hier gelte es, der Armut entgegenzutreten.

Zwei Millionen Minderjährige werden nach den Schätzungen von Unicef als Prostituierte ausgebeutet. Frau Santos Pais appellierte, die auf dem Kongreß gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern in Stockholm getroffenen Vereinbarungen auch umzusetzen. Die verabredete internationale Zusammenarbeit müsse dazu führen, daß Täter und Profiteure von Kinderprostitution, -handel und -pornographie identifiziert und bestraft werden.

Als besonderes Problem wertet Unicef, daß immer mehr Kinder zu Kriegshandlungen gezwungen werden. Etwa 200 000 Kinder hätten in den achtziger Jahren als Soldaten gedient. Sie würden ausgewählt, weil sie folgsam und leicht lenkbar seien, sagte Frau Santos Pais. Allerdings könnten Kinder, die Töten miterlebt hätten oder selbst töten mußten, kein normales Leben mehr führen. Die Unicef-Vertreterin beklagte, daß Kinder in Friedensverträgen nie eine Rolle spielten, daß sich niemand um ihre Wiedereingliederung in ein ziviles Leben kümmere.

Kritik übte Frau Santos Pais auch an der Bundesregierung. Auch Deutschland habe die Konvention über die Rechte des Kindes nicht uneingeschränkt ratifiziert. Sie beklagte, eheliche und nichteheliche Kinder seien nicht vollständig gleichgestellt. Außerdem bestünden Vorbehalte gegenüber einer generellen gemeinsamen Sorge der Eltern. Außer acht ließ die Unicef-Vertreterin dabei das aktuelle Gesetzgebungsverfahren zur Reform des Kindschaftsrechts. Darin ist vorgesehen, die Unterschiede zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern etwa im Abstammungs- und Unterhaltsrecht aufzuheben. Die gemeinsame Sorge soll danach auch für nicht miteinander verheiratete Eltern zugelassen werden. Nach Scheidungen soll ein gemeinsames Sorgerecht möglich sein, es sei denn, eines der beiden Elternteile lehnt dies ab.

Kritisiert wird außerdem, daß in Strafverfahren verwickelte Kinder und Jugendliche nicht automatisch Anspruch auf einen Pflichtverteidiger hätten. Dazu ist die Haltung der Bundesregierung, daß bei Taten geringer Schwere auch die Begleitung durch eine Behörde, etwa das Jugendamt, ausreichen müsse. Unicef sieht außerdem ausländische Kinder diskriminiert und macht dies unter anderem am Staatsbürgerschaftsrecht fest. Plädiert wird auch für einen generellen Familiennachzug. Hier hatte die Bundesregierung darauf verwiesen, daß widerrechtliche Einreise nicht als erlaubt gelten könne.
 
 

Copyright: DIE WELT, 17.9.1996