Aus: PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000, Seite 43-45

"Kinder wollen Kontakt zu beiden Eltern"
Ein Gespräch mit Ursula Ofuatey-Kodjoe über das Syndrom der Elternentfremdung

PSYCHOLOGIE HEUTE   Wie dramatisch ist das Problem der Elternentfremdung in Deutschland? Wie viele Kinder sind davon betroffen?

URSULA OFUATEY-KODJOE  Statistiken hierüber gibt es nicht. Langzeitstudien aus den USA gehen von etwa 16 Prozent sehr konflikthaften Trennungen aus mit einem hohen Anteil an Elternentfremdung. Wir wissen, dass in Deutschland über die Hälfte der Kinder nach Trennung und Scheidung aus vielerlei Gründen den Kontakt zu einem Elternteil verlieren, in dieser Zahl sind auch Fälle von Elternentfremdung enthalten.

PH  Gibt es bereits Erkenntnisse darüber, was die Langzeitfolgen der Elternentfremdung sind?

KODJOE  Zu den bekannten Langzeitfolgen, die bei lang andauernden konfliktreichen Elterntrennungen auftreten können, gehören Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, Einbußen des Selbstwertgefühls und der eigenen Beziehungssicherheit und Beziehungsfähigkeit. Die Kinder haben kein Modell für eine gelungene Paarbeziehung. So kann die Ausgrenzung eines Elternteils durch Entfremdung auch über Generationen weitergegeben werden: Die Großmutter war allein erziehend, die Mutter auch; ihre Kinder wachsen mit diesem Modell auf und haben möglicherweise dadurch ein vorwiegend negatives Männerbild.

Jedes Kind hat Persönlichkeitsanteile seiner Mutter und seines Vaters. Die eigenen Anteile des abgelehnten Elternteils kann das Kind nur erschwert annehmen und integrieren.

PH  Nun gibt es aber nach wie vor Eltern, die gar nicht zur Verfügung stehen wollen, die nach einer Scheidung die Sorge für das Kind gerne dem anderen überlassen. Was soll man in solchen Fällen tun?

KODJOE  Durch die Kindschaftsrechtsreform haben wir ein neues Gesetz, das dem Kind das Recht auf Umgang mit beiden Eltern zusichert. Die Reaktionen hierauf sind oft: Man könne niemanden zwingen, sich um sein Kind zu kümmern. Natürlich kann man das nicht. Es ist aber eine Tatsache, dass sehr viele Väter nicht wissen, wie wichtig sie für ihre Kinder sind. Es muss

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noch viel Informations- und Aufklärungsarbeit geleistet werden, um diese Väter zu motivieren, Verantwortung zu übernehmen.

PH  Was ist mit den Vätern und Müttern, die gezwungen sind, ihr Kind alleine aufzuziehen, weil der andere Elternteil die Familie im Stich gelassen hat? Macht man diesen allein Erziehenden nicht indirekt einen Vorwurf und stigmatisiert ihre Kinder, wenn man betont, dass für eine gesunde psychische Entwicklung unbedingt beide Eltern nötig sind?

KODJOE  Allein erziehend bedeutet nicht automatisch, dass der andere für das Kind überhaupt nicht mehr zur Verfügung steht. Viele Eltern entwickeln nach der Trennung eine neue Form funktionierender Elternbeziehung und arbeiten im Interesse ihrer Kinder zusammen.

Von den Kriegswaisen wissen wir, dass der gefallene Vater häufig weiterhin ein positiver Teil der Familie und der Geschichte des Kindes bleiben konnte. Er war in Erzählungen und Fotos präsent. Diese Identifikation ist erschwert, wenn er ein abgelehnter, ausschließlich negativ besetzter Teil ist.

PH  Was können Psychologen tun, damit ein Elternteil nach der Scheidung nicht beginnt, die Kinder gegen den anderen aufzubringen?

KODJOE  Es gibt keine Eitern, die ihren Kindern wissentlich Schaden zufügen wollen. In der familienerschütternden Krise haben sie ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Unterstützung und Beratung. Diese können sie in Anspruch nehmen, um die Beziehung nach der Trennung neu zu gestalten. Konflikte können so gelöst werden, dass die gemeinsame Elternschaft erhalten bleibt und das eigene Leben ohne anhaltenden biographischen Bruch weitergeht.

Im privaten wie auch im öffentlichen Raum fehlt es jedoch an Modellen, mit dem Lebensereignis Scheidung offen umzugehen. Aufgabe der Berater ist es deshalb, die Familien von Bürden wie Schuld und Versagen zu entlasten, Schwarzweißszenarien aufzulösen. Sie müssen den Eltern helfen, eigene Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Eine andere wichtige Aufgabe von Beratern ist, über die Auswirkungen von lang anhaltenden Konflikten der Eltern auf die Kinder zu informieren.

PH  Wie sollte sich die Justiz gegenüber Müttern und Vätern verhalten, die ihre Kinder gegen den ehemaligen Partner aufbringen?

KODJOE  Sie muss klar sagen: Dieser Elternteil verstößt gegen das Wohl und die Rechte des Kindes. Nach unserem Gesetz haben Kinder jetzt das Recht auf Umgang mit beiden Eltern. Oft reicht es schon, wenn der Richter jemandem, der das alleinige Sorgerecht beantragt, klar macht, dass er damit nie die alleinige Verfügungsgewalt hat. Wenn ein Kind als persönlicher Besitz betrachtet wird, kann das Sorgerecht entzogen werden. Die richterliche Autorität bewirkt hier oft Wunder, sie wird jedoch noch zu selten eingesetzt. Für viele Leute stellt der Richter eine Art Vaterfigur dar. Sagt er: Hier endet das Recht des Erwachsenen! Hier beginnt die Freiheit des Kindes!, bewirkt dies oft schon ein Umdenken. Für Sozialarbeiter und Psychologen wird die Arbeit mit diesen Eltern dadurch erheblich leichter.

PH  Sind sich die deutschen Richter überhaupt der Problemlage bewusst? Wissen sie, dass viele Kinder, die den Umgang mit einem Elternteil ablehnen, beeinflusst sind?

KODJOE  Die meisten Richter sind sich des Problems bewusst, denn sie alle haben schon mit solchen Fällen zu tun gehabt. In der Justiz hat ein Umdenken begonnen. Früher galt: Die Kinder gehören zur Mutter. Der Vater hat Umgang mit den Kindern, um sich davon überzeugen zu können, dass es ihnen gut geht. Viele Fachleute sind diesem Paradigma nach wie vor verhaftet. Deshalb gilt häufig: "Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen." Das neue Paradigma sieht die Situation aus der Sicht des Kindes, und diese stellt sich vollkommen anders dar: Kinder wollen im Normalfall Kontakt zu beiden Eltern, natürlich nur, wenn sie nicht misshandelt oder missbraucht wurden. Diese Erkenntnis fordert in Zukunft einen anderen Umgang mit Scheidungsfällen.

Immer noch gilt:
"Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen..." 

Allerdings muss man auch sehen, wie die Realität der deutschen Justiz aussieht: Ein Richter sagte mir vor kurzem, dass ein deutscher Familienrichter jährlich in 250 Arbeitstagen etwa 350 Fälle bearbeitet. Somit hat ein Richter für einen Fall maximal fünf Stunden zur Verfügung. Die Anhörung des Kindes dauert im Schnitt fünf bis zehn Minuten. In dieser Zeit kann ein Richter einfach nicht den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden, mit denen er es zu tun hat.

PH  In den USA findet das Syndrom der Elternentfremdung bereits Erwähnung in Urteilen und Gutachten. Geht man dort Ihrer Meinung nach erfolgreicher gegen Elternentfremdung vor?

KODJOE  In den US-Staaten ist man unterschiedlich fortschrittlich. Elternentfremdung ist in vielen Staaten justiziabel. Weigert sich ein Elternteil, seine Erziehungskompetenz dafür einzusetzen,

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dass die Kinder eine Beziehung zu beiden Eltern haben, dann wird in vielen Fällen dem anderen Elternteil das Alleinsorgerecht zugesprochen.

PH  Ist dies Vorgehen nicht zu radikal? Schließlich hat das Kind die ablehnende Haltung gegenüber dem abwesenden Elternteil verinnerlicht. Wird es nun gezwungen, zu diesem zu ziehen, so hat dies möglicherweise ebenfalls schwer wiegende Auswirkungen auf seine Psyche.

KODJOE  In den USA hat man positive Erfahrungen mit diesem radikalen Vorgehen gemacht. Die Kinder legen ihre feindliche Haltung sehr schnell ab. Nach kurzer Zeit ist meist auch wieder der Umgang mit dem ehemals programmierenden Elternteil möglich. Die Kinder verkraften den radikalen Übergang besser als den "weichen", bei dem man das Kind beispielsweise bei einer neutralen dritten Person oder in einem Heim unterbrachte. Im Nachhinein scheint es einleuchtend, dass ein weicher Übergang mehr Probleme für das Kind mit sich bringt. Es bekommt vermittelt, dass mit dem anderen Elternteil doch etwas nicht stimmen würde, sonst hätte es ja sofort zu ihm gekonnt. Allerdings ist in solchen Fällen eine sorgfältige Diagnostik und Beratung nötig.

Deutsche Richter dagegen können Beratung nur empfehlen, aber nicht anordnen. In den USA können die Eltern verpflichtet werden, sich in eine Therapie zu begeben. Es gibt entsprechende Einrichtungen speziell für konflikthafte Trennungen, wo Eltern und Kinder beraten werden. Bei uns existieren familientherapeutische Einrichtungen, die aber für diese Fälle noch nicht genutzt werden.

PH  Wären Sie dafür, in Konfliktfällen eine Pflichtberatung einzuführen?

KODJOE  Das Wort Pflichtberatung klingt negativ. Aber in Scheidungsfällen hinterfragt ja auch niemand, dass die Pflicht besteht, sich von einem Anwalt beraten zu lassen. Wenn Kinder und die betroffenen Eltern leiden, ist Beratung nötig. Es gibt schon viele gute Modelle dafür. Zum Beispiel könnten Eltern verpflichtet werden, vor dem juristischen Procedere eine Mediation zu machen; oder sie müssen einen Berater konsultieren, um zu erfahren, was ihnen helfen kann.

PH  Was geschieht, wenn entfremdete Kinder doch plötzlich wieder Interesse gegenüber dem ausgegrenzten Elternteil empfinden? Wenn sie auf einmal den Wunsch verspüren, wieder Kontakt aufzunehmen?

KODJOE  Häufig suchen junge Erwachsene den Kontakt zum verlorenen Elternteil, um zu prüfen, ob das wirklich ein "verlogener" Vater ist oder eine "unmoralische" Mutter. Dann zeigt sich oft ein Bumerangeffekt für den programmierenden Elternteil: Die Kinder sind aufgewachsenen mit der Überzeugung, der abwesende Elternteil habe sich nie interessiert, nie etwas für die Familie getan. Suchen sie ihn dann auf, so kann er dies oft allein anhand eines dicken Aktenordners widerlegen. In diesem Moment können diese jungen Menschen die Vertrauensbeziehung zu der Person verlieren, mit der sie gelebt haben. Dann nämlich, wenn sie feststellen, dass alles auf einer Lüge aufgebaut war. Sie erkennen schmerzlich, dass sich die verlorene Kindheit mit dem einen Elternteil nicht mehr nachholen lässt.

Bei Erwachsenen, die diese Erfahrung gemacht haben, spüre ich eine tiefe Traurigkeit. Sie hätten eine konfliktreiche Beziehung vorgezogen und die Entscheidung über die Art und Ausgestaltung der Beziehung lieber selbst getroffen.

Letztendlich wissen wir aber wenig über die rückblickende Sichtweise von Erwachsenen, die als Kinder einen Elternteil ablehnten, obwohl sie zu ihm vor der Trennung eine normale, vertrauensvolle Beziehung hatten.
 
Mit Ursula Ofuatey-Kodjoe sprach Julia Weidenbach.

Ursula Ofuatey-Kodjoe ist Diplomsozialarbeiterin, Diplompsychologin und Mediatorin. Sie arbeitet in der Trennungs- und Scheidungsberatung, als Sachverständige in Sorge- und Umgangskonflikten und in der Fortbildung. Außerdem ist sie Dozentin des Verbandes Anwalt des Kindes. 

Für ihre Forschung zum Syndrom der Elternentfremdung bittet Frau Kodjoe geschiedene und getrennt lebende Eltern, mit ihr in Verbindung zu treten, wenn sie:

· ihre Gründe haben, warum ihr Kind zum anderen Elternteil keinen Kontakt mehr pflegen soll und diesen unterbinden;

· keinen Kontakt mehr zu ihrem Kind haben, weil das Kind nicht will.

Betroffene (junge Erwachsene) mögen sich melden, wenn sie

· sich als Kinder oder Jugendliche auf die Seite eines Elternteils schlugen und den Kontakt zum anderen ablehnten oder verloren.

Ursula Otuatey-Kodjoe, Fichtenstr. 29, 79194 Gundelfingen, Tel.: 0761/4001277 

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