Wenn der Sohn den Vater verstösst...

Nach der Scheidung nutzen Eltern oft die Kinder für ihre Zwecke

Josef Linsler

Im neuen Kindschaftsrecht ist die gemeinsame elterliche Verantwortung verankert. Das heißt Väter und Mütter müssen sich nach einer Scheidung grundsätzlich beide um die Kinder kümmern. Was aber ist zu tun, wenn die Kinder jeglichen Umgang mit einem Elternteil verweigern? Meist sind es Väter, die vom Kind plötzlich "verstoßen" werden.

In den USA ist dieses Verhalten seit 1984 unter dem Begriff "Parental Alienation Syndrome" (PAS – Elterliches Entfremdungs-Syndrom) bekannt. In Deutschland wurde PAS erstmals in einem Urteil des Amtsgerichts Rinteln vom 27. April 1998 benannt (Az: 2 XV 178). Seit der Reform des Kindschaftsrechtes im Sommer 1998 ist das Phänomen in Deutschland das meistdiskutierte familienrechtliche Problem, denn Kinder, die sich weigern – sei es durch "Manipulation" oder durch eigenen Antrieb – können die gemeinsame elterliche Sorge unterwandern. Die Ablehnung eines Elternteils vollzieht sich in einem mehr oder weniger langen Prozess. Meist funktioniert zumindest direkt nach der Trennung der Umgang recht gut. Jedoch mit Beginn des Scheidungsverfahrens setzt der oft kompromisslose Kampf ums alleinige Sorgerecht ein. Wer das Kind hat, versucht oft, seine Macht über die Gefühle des Kindes zu nutzen.

"Ich sag’s dem Rechtsanwalt"

Die Ablehnung des Vaters (oder der Mutter) vollzieht sich dann in Ritualen: Die Kinder sprechen oft formelhaft, "spulen" auswändig Gelerntes ab. Sie verwenden Begriffe, die nicht altersgemäß sind, antworten reflexartig. Ein sechsjähriger Junge antwortete beispielsweise einem Gutachter auf die Frage, warum er seinen Papa nicht mag: "Mit Dir red’ ich nicht, ich sag’s nur meiner Mama und dem Rechtsanwalt."

Das Urteilsvermögen des Kindes wird in solchen Fällen beherrscht von einem Schwarzweißschema: Alles, was mit dem "fernen" Elternteil zusammenhängt – Großeltern, Onkel, Tanten, wird abgelehnt. Auch einst schöne Erlebnisse werden negativ umgedeutet. Umgekehrt wird das Umfeld des "nahen" Elternteils ausschließlich positiv bewertet. Aus Angst auch noch den "nahen" Elternteil zu verlieren, unterwirft sich das Kind, zeigt ihm seine unbedingte Loyalität, indem es sich gegenüber dem "fernen" Elternteil abschottet. Auch wenn es paradox ist, die Ablehnung schafft insbesondere kleinen Kindern Erleichterung, der Loyalitätskonflikt zwischen den Eltern wird verdrängt.

Die Biografie von PAS-Opfern belegt jedoch, dass verdrängte Konflikte zu Gemütskrankheiten führen können, manchmal erst im Erwachsenenalter. Die Ängste der PAS-Auslöser sind vielfältig und individuell unterschiedlich. Fast jede Scheidung löst bei den Betroffenen materielle Ängste aus. Es liegt für viele nahe, die Kinder an sich zu binden und sich somit langfristig durch Unterhaltszahlungen abzusichern. Auch die Angst vor Einsamkeit, die unbewusste Angst vor dem Machtverlust über den verlorenen Partner sind Ursachen, warum Kinder instrumentalisiert werden. Hinzu kommen mangelndes Selbstbewusstsein und fehlende Distanz zum eigenen Handeln.

Sensibilisierte Gutachter

Der Ansatz zu einer Lösung der Konflikte liegt in der Regel in einer Kooperation zwischen Familiengerichten und psychologischen Gutachtern. Voraussetzung ist, dass Familienrichter und Gutachter für die Problematik sensibilisiert werden. Mit Hilfe eines erfahrenen Psychologen kann über den Familienrichter der Kontakt zwischen dem "ausgesperrten" Elternteil und den Kindern wieder in die Wege geleitet werden. Wichtig sind klare Besuchsregelungen. Als wirksam hat sich erwiesen, wenn bei fortgesetzter Kindesmanipulation der Entzug der elterlichen Sorge angedroh wird.

Väter und Mütter, die auf Grund von PAS ihre Kinder nicht sehen dürfen, sollten sich – das raten Betroffene – nicht auf Justiz oder Jugendamt verlassen, denn dort herrsche oft die Auffassung vor, gegen den Willen der Kinder und der Mutter könne man nichts machen. Nach den Motiven der Ablehnung werde nur selten gefragt. Dennoch sollten Betroffene im Interesse ihrer Kinder nicht resignieren, denn Kinder brauchen beide Eltern für eine gesunde Entwicklung.

Artikel vom 20. Dezember 1999
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