Dieser Artikel stammt aus dem Jahr 1993, als PAS (Parental Alienation Syndrom) noch kein Begriff war.
28.11.2001 Thomas
 

Serie: Allein mit Kind

Den Kampf gegen das Besuchsrecht büßen die Kinder

Die Wochenenden beim Vater sind Gift - finden viele sorgeberechtigte Mütter und gehen dagegen an. Doch das ist nur selten zum Wohle der Kinder

Die junge Mutter, die aus Wiesbaden in der ELTERN-Redaktion anruft, ist aufgebracht. Sie erzählt von ihrer Scheidung, die gerade zwei Monate zurückliegt. Von ihren beiden Kindern, für die sie das Sorgerecht bekommen hat. Und von ihrem Exmann, der die Kinder alle zwei Wochen holt. Und dann macht sie ihrem Ärger richtig Luft:" dieses Besuchsrecht ist das letzte. Nach den Wochenenden bei ihrem Vater sind die Kinder total durcheinander. Mal sind sie aggressiv, dann depressiv. Aber kein Wunder, er hatte ja noch nie eine Ahnung von Erziehung." Wie dieser Mutter geht es vielen Sorgeberechtigten. Sie finden, daß der Exmann den Kindern nicht guttut und sich überhaupt ganz unmöglich benimmt. Manche Mütter macht das so sauer, daß sie versuchen, die ausgemachten Besuchstermine mit fadenscheinigen Argumenten zu vereiteln. Sie sagen, das Kind müsse zum Zahnarzt oder könne aus irgendeinem Grund nicht zum Vater. Andere unternehmen sogar juristische Schritte und beantragen die Aussetzung des Besuchsrechts.

Was vielen Müttern dabei nicht bewußt ist: Der Große Widerwille gegen die Besuchswochenenden hat weniger mit der Sorge um die Kinder als mit dem eigenen Trennungsschmerz zu tun. Denn wer mit einem Menschen nicht zurechtkommt, für den ist es sehr schwer einzusehen, daß dieser „unmögliche" Mensch mit den Kindern vielleicht ganz anders umgeht - und von diesen auch anders wahrgenommen wird.

Außerdem: Wer nach einer Trennung allein dasteht, der fürchtet, auch die Kinder könnten sagen: Ich liebe dich nicht mehr, ich gehe. Viele Mütter verschmelzen in dieser Nachscheidungsphase regelrecht mit ihren Kindern. Sie betrachten sie als einen Teil von sich und können kaum ertragen, daß sie eigene Erfahrungen mit ihrem Vater machen.

Viele Mütter empfinden den anderen Erziehungsstil des Vaters automatisch als persönlichen Affront. Tatsächlich machen Besuchsväter am Anfang vieles falsch. Nicht aus Rache an der Exfrau, sondern weil sie im Umgang mit Kindern unsicher sind.

Ein weiterer Grund: Durch die Besuchstage werden Schmerz und Rachegefühle immer wieder aufgewühlt. Man muß sich weiterhin mit dem Expartner auseinandersetzen. Das ist unangenehm und viel schwieriger, als einfach alles abzubrechen und dabei noch die Genugtuung zu haben: Ich bin der Gewinner, denn ich habe die Kinder.

„Das mag ja alles stimmen", sagte die ratsuchende Wiesbadenerin am Telefon. „Sicher möchte ich auch für mich diese unselige Besuchsregelung vom Hals haben. Aber ich mache mir wirklich auf Sorgen um die Kinder. Es kann nicht gut sein, wenn sie jede Woche diese Wechselbäder haben. Mein Sohn hat schon Schlafstörungen."

Die Verwirrung ist meist das kleinere Übel

Es stimmt: Kein Kind läßt eine Scheidung völlig unbeschadet hinter sich. Und kurzfristig scheint es tatsächlich ruhiger zu werden, wenn es den Vater nicht mehr sieht. Trotzdem ist dies kein Argument, die Besuchstermine zu vereiteln.

Psychologen wissen heute: Selbst wenn der Vater pädagogisch gesehen eine Menge falsch macht - die Kinder brauchen ihn. Sie brauchen ihn als männliche Bezugsperson. Sie brauchen ihn, um selbst herauszufinden, welche Stärken und Schwächen er hat. Sie brauchen ihn, weil sie ihn mit all seinen Fehlern lieben - und fast immer Sehnsucht nach ihm haben. Selbst dann, wenn er sich vor der Scheidung nicht viel um seine Kinder gekümmert hat und erst hetzt beginnt, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen.

Daß viele Kinder gerade in der ersten Zeit nach der Trennung so durcheinander sind, ist kein Wunder: Sie müssen ihr Weltbild neu ordnen, denn alles ist plötzlich anders. Sie können mit dem Vater nur zusammensein, wenn sie auf die Mutter verzichten, und andersherum. Und wenn sie bei einem von beiden sind, müssen Sie fürchten, den anderen nicht wiedersehen zu können. All das macht wütend, traurig und unausgeglichen, manchmal sogar krank.

Eine Aussetzung der Besuche würde jedoch die Ängste des Kindes nur bestätigen. Und das Gefühl, von einem geliebten Menschen im Stich gelassen zu werden, quält viele Scheidungskinder noch als Erwachsene. Die Unruhe nach den Besuchstagen läßt hingegen meist schon nach einigen Monaten nach.

Sicher werden jetzt immer noch manche Mütter die Stirn runzeln und sagen:" Aber mein Kind sagt ausdrücklich, daß es nicht zum Vater will. Ich kann es doch nicht zwingen."

Für viele Mütter - und auch das ist nur allzu verständlich - ist eine solch offensichtliche Abwehrreaktion eine willkommene Bestätigung ihrer eigenen Gefühle. Nach dem Motto: Ich habe ja schon immer gewußt, daß mein Exmann ein Schuft ist, und jetzt hat es mein Kind endlich auch gemerkt. Aber das Kind hat es vor allem deshalb gemerkt, weil es dies merken sollte. Aus Angst, auch noch die Mutter zu verlieren, erklärt es sich solidarisch mit ihr - im tiefsten Innern hat es dennoch die Sehnsucht, den Vater wiederzusehen.

Kompromisse statt Kontaktbruch

Wenn sich die Situation bereits so zugespitzt hat, hilft nur noch eine Beratungsstelle (Adressen bekommt man vom Jugendamt, vom Familiengericht oder vom Scheidungsanwalt). Dort versuchen Fachleute, den schwelenden Machtkampf der Eltern so weit zu entspannen, daß es dem Kind wieder möglich wird, Mutter und Vater zu lieben. Sind beide zu Kompromissen bei der Besuchsregelung bereit, läßt sich meist ein Kontaktabbruch vermeiden.

Gibt es beispielsweise beim Holen und Zurückbringen des Kindes zwischen den Eltern immer wieder Streß, dann wäre es eine Möglichkeit, das Kind zumindest der ersten Zeit von einem gemeinsamen Freund zum Vater bringen zu lassen.

Oder: Wenn es eine sorgeberechtigte Mutter sehr stört, daß der Exmann eine neue Freundin hat, dann kann man sich für eine Übergangszeit einigen, daß die Freundin nicht dabei ist, wenn das Kind beim Vater ist.

Befürchtet die Mutter hingegen, der Vater würde das Kind vernachlässigen, kann man vereinbaren, daß die Besuche erst mal in der Wohnung der Mutter stattfinden oder das Kind in den ersten Monaten nicht über Nacht beim Vater bleibt.

Diese Lösung ist auch sinnvoll, wenn eine Mutter Angst hat, ihr Kind könnte vom Vater entführt werden. Eine weitere Möglichkeit in so einem drastischen Fall wäre, die Besuchszeit vorübergehend in eine Beratungsstelle zu verlegen.

Oft sind es Kleinigkeiten, die zum Anlaß genommen werden, im Partner nicht nur einen schlechten Ehemann, sondern auch einen schlechten Vater zu sehen - und damit die vereitelten Besuchstermine zu rechtfertigen. Beispiel Ernährung: In einer funktionierenden Ehe würde keine Mutter den Kontakt zwischen ihrem Mann und den Kindern verbieten, nur weil der ihnen jedesmal Pommes und Eis spendiert, wenn er mit ihnen unterwegs ist. Im Scheidungsfall scheint es für einige Mütter jedoch nur eine radikale Konsequenz zu geben: Weg mit dem Besuchsrecht!

Natürlich gibt es Situationen, in denen diese Forderung gerechtfertigt ist - etwa wenn der Vater das Kind schlägt oder es sexuell mißbraucht.

Vor dem Gang zur Polizei oder zum Anwalt ist es aber immer wichtig, sich ganz ehrlich zu fragen: Glaube ich wirklich, daß er das Kind mißhandelt, oder will ich es glauben, um mich an ihm zu rächen.

Gerade die Hoffnung, das Kind nach Aussetzung des Besuchsrechts ganz für sich zu haben, erweist sich langfristig als Trugschluß: Die meisten Anträge auf Sorgerechtsänderung werden nämlich von Jugendlichen gestellt, die als Kinder den Kontakt zum zweiten Elternteil verloren haben. Spätestens in der Pubertät beginnen sie, sich für ihre Wurzeln zu interessieren. Sie suchen nach dem Vater. Und wenn sie ihn gefunden haben, wechseln sie die Seiten.

Anke Willers

Eltern
August 1993