Schulschwänzer: „Ich
hab' ne Menge Mist gebaut”
Von RAINER KELLERS
01.02.2004 21:58 Uhr, aktualisiert 05.02.2004
19:37 Uhr
Der 16-jährige Andreas scheint nicht zu begreifen, dass die Frau, die da vor ihm sitzt, seine vielleicht letzte Chance ist. Sein Gesicht ist ein Abbild demonstrativen Desinteresses. Als er sich betont lässig auf den Stuhl pflanzt, wirkt er bedrohlich und verunsichert zugleich. Die nächsten zehn Minuten hört er nicht auf, das Silberkettchen, das er um die rechte Hand gewickelt hat, immer wieder durch die Luft schnellen zu lassen wie ein Miniaturlasso.
Marie Rheinländer-Hahn, die Frau gegenüber, ignoriert das Gehabe des Jugendlichen so gut es geht - obwohl ihre geröteten Wangen verraten, dass sie unter Stress steht. Man möchte ihr zurufen, auf den Tisch zu hauen, dem Jungen endlich das Kettchen abzunehmen und sich das unverschämte Gebaren nicht gefallen zu lassen. Doch vermutlich würde das alle Bemühungen der 34-Jährigen zunichte machen, das Vertrauen jener Schüler zu erlangen, die das Vertrauen in alles, was mit Schule zu tun hat, verloren haben.
Rheinländer-Hahn ist Sozialarbeiterin an Schulen, „Wegeplanerin“ lautet ihr offizieller Titel. Das klingt positiv. In Wahrheit jedoch sind die Schüler, die bei ihr zum Gespräch geladen sind, am Ende eines Weges angekommen - am Endpunkt einer katastrophal verlaufenen schulischen Laufbahn. Es sind Schüler, die der Schule den Rücken gekehrt haben. Als Schulmüde werden sie bezeichnet, als „Schwänzer“ oder „Blaumacher“. Und von ihnen soll es immer mehr geben.
Hunderttausend Jugendliche schwänzen täglich den Unterricht, verbreitete jüngst der Deutsche Lehrerverband. Das brandenburgische Bildungsministerium geht bundesweit gar von mehreren hunderttausend Schwänzern aus. Von diesen sind nach Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) fünf bis zehn Prozent „hartnäckige Schwänzer“, die zehn oder mehr Tage je Halbjahr fehlen. Und davon wiederum sei jeder Zweite kriminell.
Erschreckende Fakten, die hinweisen auf ein gesellschaftliches Problem ersten Ranges. Auch wenn umstritten ist, ob es ein neues Problem ist (s. Artikel unten). Einig sind sich dagegen Wissenschaftler und Lehrer, dass das Schwänzen nicht als Kavaliersdelikt betrachtet und bagatellisiert werden darf. „Schulschwänzen ist ein Risiko-Faktor für das spätere Leben“, meint etwa der Direktor des KFN, Professor Christian Pfeiffer. Das Deutsche Jugendinstitut kommt zu dem Schluss, dass die Aussichten hartnäckiger Schwänzer bereits mit 15 Jahren gering sind, jemals erfolgreich in die Arbeitswelt integriert zu werden. Und der Kölner Soziologe Professor Michael Wagner warnt, dass die Blaumacher „lebenslang sozial und ökonomisch benachteiligt sind“.
Ob Andreas das klar ist? Der Kölner war schon in der Grundschule negativ aufgefallen. Man schickte ihn auf die Schule zur Erziehungshilfe in Köln-Dünnwald, und da ist er noch heute. Bei Rheinländer-Hahn, der Wegeplanerin, ist er gelandet, weil er häufig dem Unterricht ferngeblieben ist und auch Praktika - ein wichtiger Bestandteil des Lehrkonzepts - geschwänzt hat. Immer, wenn es schwierig wurde, sagt Rheinländer-Hahn, hat er sich entzogen. Warum er gefehlt hat, was er in der Zeit getrieben hat - auf diese Fragen reagiert Andreas mit gelangweiltem Achselzucken und lässt das Kettchen um seinen Finger sausen.
Seine Schulkameradin Gül ist da offener. „Ich habe 'ne Menge Mist gebaut“, sagt die 15-Jährige, und ihre Miene zeigt dabei eine Mischung aus Stolz und Scham. Auf drei verschiedenen Hauptschulen ist sie gewesen, drei Mal ist sie geflogen. Sie war Anführerin von Mädchencliquen, die gemeinsam geschwänzt und dann eben „Mist gebaut“ haben. Jetzt sitzt sie wie Andreas der Wegeplanerin gegenüber.
Das Wegeplanerprojekt ist ein Modell von vielen, Schulschwänzer wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Sozialarbeiter werden dabei bestimmten Schulen zugeteilt, und dort sprechen sie gezielt Schüler an, „die sich ausklinken“, wie Rheinländer-Hahn es formuliert. In Einzelgesprächen versuchen sie, die Ursache für die Probleme zu finden und Lösungen anzubieten, etwa schulbegleitende Praktika. „Manchmal entwickelt sich ein Gespräch“, sagt Rheinländer-Hahn bescheiden. Es komme aber auch vor, dass die Jugendlichen den Termin bei ihr schwänzen. . .
Manche Kommunen, zum Beispiel Köln und Euskirchen, verhängen Bußgelder von bis zu tausend Euro gegen die Eltern notorischer Schwänzer. In anderen Städten kontrollieren Polizeibeamte beliebte Treffpunkte von Schwänzern, etwa die Computerspielabteilung von Kaufhäusern, und „eskortieren“ die Übeltäter zur Schule - etwa in Gummersbach. In Kerpen läuft ein Modellprojekt, bei dem den Eltern von Dauer-Blaumachern das Sorgerecht teils abgesprochen und einem amtlichen Pfleger übertragen wird. Beliebt ist auch die telefonische Benachrichtigung der Eltern, wenn die Schüler nicht in der Schule erscheinen.
Gegen die wirklich „harten Fälle“, bei denen gravierende Probleme zur Schulverweigerung führen, bewirken diese Maßnahmen allerdings nichts. „Es gibt kein Patentrezept“, sagt Professor Wagner. Immerhin ermöglichen die Maßnahmen aber eine Identifizierung der hartnäckigen Schwänzer, meint KFN-Direktor Pfeiffer. Dann könne man sich gezielt um sie kümmern.
Und das macht dann zum Beispiel Rheinländer-Hahn.
Für Andreas will sie ein neues Praktikum organisieren. Vielleicht
als Gerüstbauer oder Dachdecker. Andreas lässt das Kettchen sausen:
„Aber ich will nicht nur Drecksarbeit machen“, sagt er. Spätestens
jetzt sieht die Sozialarbeiterin aus, als wollte sie verzweifeln.
(KR)
01.02.2004
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