Franz Weisbrodt, Neustadt a. d. Weinstraße. Richter am Pfälzischen OLG Zweibrücken und Mitglied des Familiensenats
Bezug: DAVorm. 08/2000, S. 617 - 630

Die Bindungsbeziehung des Kindes ist Handlungsmaxime nach der Kindschaftsrechtsreform

Der Wechsel von der juristischen zur sozialpflegerischen Intervention hat zwar schon mit dem KJHG (Sozialgesetzbuch - SGB VIII vom 15.03.1996) begonnen, ohne daß behauptet werden kann, er sei zum durchgängigen Arbeitsprinzip der Familiengerichte und der Jugendämter geworden. Seit das Kindschaftsreformgesetzt (vom 13.12.1997) dem Prinzip der horizontalen, weil gleichberechtigten Arbeitsteiligkeit beider Scheidungsbegleiter einen zusätzlichen Schwerpunkt gegeben hat (vergl. §§ 17, 18 u. 50 SGB VIII sowie §§ 49, 49a, 52, 52a FGG), muß das Verfahren aber (zwingend) darauf eingestellt werden. ... Zweck des Verfahrens ist somit die Aufrechterhaltung beider Elternbeziehungen. Dazu soll den Eltern auch durch die Verfahrensgestaltung die Bereitschaft und die Befähigung vermittelt werden. ...

Jedes Kind hat das natürliche, unveräußerliche Recht auf die gelebte lebenslange Beziehung zu beiden Eltern. Sie ist die Basis für eine gesunde körperliche, seelische und intellektuelle Entwicklung des Kindes. Nur eine positive Beziehung zu beiden Eltern hat günstige Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, auf die eigene Beziehungsfähigkeit, auf die Lebenszufriedenheit und die Lebensqualität des Kindes. Es ist nachgewiesen, daß die Kinder, deren Bindung zu beiden Eltern und den übrigen Familienmitgliedern nach der Scheidung aufrecht erhalten worden sind, signifikant bessere Entwicklungsmöglichkeiten haben, als diejenigen Kinder, die durch die Scheidung die Beziehung zu einem Elternteil verloren haben. Weil nicht die Scheidung das Problem der Kinder ist, sondern der Verlust oder die Beziehung zu einem Elternteil, hat eine Art. 6 GG entsprechende Regelung dazu beizutragen, daß trotz des Paarkonflikts der Eltern die Beziehung des Kindes zu beiden Eltern erhalten bleibt.

In Abkehr vom früher geltenden Prinzip, den Schaden durch Ausschluß eines Elternteils von der elterlichen Sorge begrenzen zu wollen, will das neue Recht keine Ausgrenzung mehr. Die frühere "Kernfamilie" soll sich in einer "Nachscheidungsfamilie" neu strukturieren, einer dynamischen Beziehungsebene mit Platz für alle diejenigen Menschen, die auch die nicht getrennte Familie geprägt hatten oder künftig prägen würden. Diese "psychologische Familie" stellt, auch wenn sie nicht mehr im Verband existiert, ein nicht austauschbares Beziehungswerk dar, das über die spätere Identität, Lebensgestaltung und das Selbstwertgefühl des Kindes entscheidet. Die Nichtaustauschbarkeit indiziert die Unverzichtbarkeit der Beziehungspersonen. ...

Die gesetzlichen Regeln sollen mithelfen, Trennungskonflikte mit möglichst geringen Einbußen für das Kind zu bewältigen. Dazu verordnet es weder eine Regelform, wie die elterliche Sorge generell zu handhaben ist, noch zwingt es die Eltern zu einer Einigung.

... Die gemeinsame elterliche Sorge kann gegenüber der Alleinsorge den Vorzug haben, daß die Bindungen des Kindes zu beiden Eltern besser aufrecht erhalten und gepflegt werden können. Das kann die Chancen vergrößern, daß das Kind trotz der Trennung zwei in jeder Hinsicht vollwertige Elternteile behält. Dieses Anliegen kann aber auch im Rahmen der Alleinsorge gewährleistet werden. Dann ist die Bindungstolleranz der Elternteile jedoch eine wichtige Voraussetzung für die Übertragung des Sorgerechts. Eine durch Trennung der Eltern bereits geschwächte Eltern-Kind-Beziehung darf nicht noch weiter geschwächt werden, indem deren Wahrung dem Gutdünken des sich verweigernden Elternteils überantwortet wird. Die Diskussion um die Kooperation der Eltern als Voraussetzung für eine gemeinsame Sorge hat zu Unrecht einen die Bedeutung dieses Aspektes weit überschreitenden Stellenwert erhalten. ...

Beim Versuch mit den Mitteln der juristischen Technik schlagwortartige, subsumierbare Tatbestandsmerkmale zu schaffen, ist mitunter viel zu sehr auf das alte Recht zurückgegriffen und versucht worden, überkommene Inhalte zu transformieren. ..

Von der gemeinsamen Sorge kann dort auch nicht abgerückt werden, wenn ein Elternteil offensichtlich desinteressiert oder unkooperativ ist. Erst in den Fällen, in denen ein Sachverhalt i.S.v. § 1666 BGB zu beobachten ist, kann in der Kernfamilie ein Elternteil von der elterlichen (Personen)Sorge ausgeschlossen werden. Zu fragen ist, was das Kind braucht und was beide Elternteile teils jeder für sich, teils gemeinsam dazu beitragen können, daß es vor dem Bewußtsein der Erhaltung einer elementaren Bindungsbeziehung notwendig ist, die Verweigerungshaltung eines oder beider Elternteile nicht genügen zu lassen, sondern diese auf ihre an der Verantwortung für das Kind zu messenden Stichhaltigkeit zu überprüfen. Bei jedem Sorgerechtsmodell gilt die wechselseitige Verpflichtung beider Eltern, alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert. ...

Nach der Intention des neuen Kindschaftsrechts gilt also: - Keine von beiden Elternbeziehungen ist disponibel. - Zu finden ist nicht die Form, sondern der Weg, der das Bedürfnis des Kindes nach zwei guten Elternbeziehungen sichert. Deshalb tritt bspw. auch die bisher primäre Ermittlung der elterlichen Qualifikation zurück. Es geht nicht mehr um den Ausschluß eines Elternteils, sondern um eine Aufgabenverteilung zwischen beiden Eltern. Verlangt wird weniger die Gemeinsamkeit als das (friedliche) Nebeneinander. - Den Eltern, die keinem Einigungszwang unterliegen, kann geholfen werden, den Weg zu finden und zu gehen. - Bei dem Bestreben, den Eltern ein zumutbares Verhalten für das Kind abzufordern, dürfen diese weder über - noch unterfordert werden. Jedenfalls darf der Begriff Kooperation nicht mit dem des Konsenses gleichgestellt werden, weil nicht die Gemeinsamkeit im Sinne eines gemeinschaftlichen Handelns verlangt wird. Die Eltern können sich darauf beschränken, das Nebeneinander zu regeln und auch dadurch den Belangen des Kindes, das eine geregelte Trennung durchaus verarbeiten kann, genügen.

Die Rollenverteilung durch das gesetzliche Modell der gemeinsamen Sorge soll dabei helfen, ohne Regelform sein zu müssen: Im Gegensatz zur früheren gemeinsamen elterlichen Sorge, bei der die Eltern zur gemeinsamen Willensbildung, ... hat die gemeinsame elterliche Sorge der § 1671 Abs. 1, § 1687 BGB die Gemeinsamkeit im Handeln zu Gunsten einer situationsbedingten alleinigen Entscheidungsbefugnis eines Elternteils zurückgedrängt. Welcher Elternteil allein entscheidet, hängt nicht allein von der Art zu treffenden Maßnahmen ab, sondern auch von der Entscheidungskompetenz, die indes nur zum Teil an die Inhaberschaft der elterlichen Sorge und ansonsten an die tatsächliche Betreuungssituation anknüpft.

Nachdem mit Trennung die Grundlage für ein gemeinschaftliches autonomes Handeln weitgehend entfallen ist, beinhaltet das gesetzliche Modell eine Art Alleinsorge eines Elternteils ... mit Mitbestimmung des anderen Elternteils in wichtigen Angelegenheiten Daneben hält das Gesetz in gestufter Form Konfliktlösungsregeln bereit. Die Konfliktbewältigung mit dem Ziel der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Beziehung zu beiden Elternteilen wird flankiert durch die Hilfe in Form der Beratung (sozialpflegerische Intervention) gemäß § 17 SGB VIII.

Um dem Kind aus einer durch Trennung belasteten Familie die bestmögliche Beziehung zu beiden nicht mehr als Paar verbundenen Eltern zu erhalten, werden den Eltern zur Schaffung einer Grundlage für ein autonomes Handeln auch im Paarkonflikt und um bei einer etwaigen Überforderung die Gefahr des Versagens zu verringern, in der Trennungs- und Scheidungsphase Orientierungshilfen gegeben, die diese befähigen sollen. ihre rollenspezifische und ihre gemeinsame Verantwortung gegenüber dem Kind selbst wahrzunehmen. Diese Hilfen betreffen sowohl die Phase der Regulierung (§§ 17 ff. SGB VIII), als auch die des Vollzugs der elterlichen Verantwortung (§§ 1628, 1687 BGB, § 52a FGG, § 18 SGB VIII). Sie anzunehmen, ist Teil der Elternpflicht.

Die familiengerichtliche Entscheidung kann die Beziehungskontinuität fördern. Auch bei gemeinsamer Sorge getrennter Eltern kann das Kind seinen Lebensmittelpunkt nur bei einem Elternteil haben. Das hat zur Folge, daß die Beziehungskontinuität ... in erster Linie im Umgang des nicht betreuenden Elternteils mit dem Kind bewirkt wird. Der Umgang des Kindes mit diesem Elternteil ist daher - siehe § 1626 Abs. 3 BGB i.V.m. § 1684 und § 1687 a BGB - von überragender Bedeutung. Es beschränkt sich nicht auf ein Besuchsrecht, in ihm wird vielmehr auch die elterliche Verantwortung des nicht betreuenden Elternteils realisiert. Das Gebot des § 1684 BGB, alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert, richtet sich an beide Eltern und ist auch bezüglich des 2betreuenden Elternteils nicht auf die Beeinträchtigung des Verhältnisses zum anderen Elternteil beschränkt. Schließlich belegt die Befugnis, daß der nicht betreuende Elternteil weiterhin an der elterlichen Verantwortung teilnimmt. Dieser ist daher von der Erziehung des Kindes nicht ausgeschlossen. ...

Die familiengerichtliche Entscheidung muß deswegen Qualitätskriterien erfüllen, wie:
 


Nur ein Verfahren, das die gesetzliche Aufgabenverteilung beachtet, genügt dem Anspruch des Kindes auf die Beziehung zu beiden Elternteilen. Unter dem Stichwort "Integration statt Ausgrenzung" müssen Familiengericht und Sozialpflege kooperieren. Neben ... gibt nun § 17 Abs. 3 SGB VIII eine weitere Interaktionsbrücke zwischen Familiengericht und Jugendamt. Die mediativen Handlungsmöglichkeiten des Richters, der auch Streitentscheider ist, sind begrenzt. Dem gegenüber kann die Beratung der Jugendhilfe im Rahmen einer funktionalen Arbeitsteiligkeit ohne die Erwartung, bei der streitigen Entscheidung mitwirken zu müssen, verlaufen. Aufgabe der Sozialpflege ist es, mit präventiven und offensiven "Angeboten, Hilfen, Leistungen" die Trennungs- und Scheidungsberatung zur Alternative zur gerichtlichen Entscheidung zu machen. Das Ziel ist die Konfliktlösung durch elterliche Selbstregulierung, ermöglicht durch die Beratung als Interventionsmittel. Hilfe zur Selbsthilfe ist zu geben. Die Beratung orientiert sich daher am Primat der Konfliktregulierung und nicht an einem bestimmten Sorgerechtsmodell. Außerdem ist festzustellen und zu begründen, daß und warum ein elterlicher Konsens ausgeschlossen ist. Nur im Umfang ungeklärter Bereiche braucht das Familiengericht zu intervenieren.

Es hat daher dem distanzierten Elternteil aufzuzeigen, daß die Einnahme einer Verweigerungshaltung, die dazu führt, daß die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil Not leidet, nicht die juristische Intervention zum primären Mittel macht, sondern eine solche Position vom Staat in seinem Wächteramt nicht hingenommen wird und im Interesse des Kindes nötigenfalls sanktioniert werden muß. Von den Eltern ist zu erwarten, daß sie sich der angebotenen Hilfen bedienen.

Das Verhalten eines Elternteils in einer Beratungsphase ... ist Bestandteil der Kindeswohlprüfung. Die Verweigerung der Annahme von Beratung kann als kindeswohlfeindliche Unterlassung zu werten sein. Das Nichterscheinen eines Elternteils zum Gespräch beim Jugendamt im Familienkreis kann Anhalt sein, daß das - alleinige oder gemeinsame - Sorgerecht mißbraucht wird, um die ungestörte Entwicklung des Kindes zu beeinträchtigen. Bezüglich der Stichhaltigkeit einer Verweigerung indiziert der Paarkonflikt nicht - im Sinne einer Vermutung - einen mit ihm verknüpften Elternkonflikt. Daher obliegt es dem Elternteil, der die Sorge allein ausüben will, konkret den Elternkonflikt aufzuzeigen.

All dies verlangt ein sorgfältiges Verfahren, weshalb es ein Verfahrensfehler sein kann, wenn nicht geprüft wird, ob das Verfahren ausgesetzt werden muß, um der sozialpflegerischen Beratung Gelegenheit zu geben, mit den Eltern den Konflikt beizulegen oder in seiner Schwere abzumildern, um ein gemeinschaftliches Konzept zur Regelung der elterlichen Sorge erarbeiten zu können. Zu einer verfahrensgerechten Prüfung gehört es wegen der Subsidiarität der gerichtlichen Intervention auch herauszufinden, ob die sozialpflegerische Intervention durchführbar erscheint. Fazit: Auch wenn sich die Familiengerichte mit einer ungewohnten und schwierigen Materie befassen müssen, müssen die vertrauten Wege verlassen werden.

Das neue Recht läßt sich im Sinne des Kindes nur verwirklichen, wenn das Verfahren den ausreichenden stabilen Rahmen gibt. ... indem Familiengerichte und Sozialpflege innovativ mit neuen Materialien arbeiten und eine tragfähige Hülle schaffen, in der das neue Recht reifen kann." (Ende des Zitats)
 

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