Betreff: Sorgerecht: NEIN der Mutter - sie bekommt Alleinsorge
Datum: Wed, 14 Jun 2000
Von: "paPPa.com" <webmaster@pappa.com>

Sorgerecht: NEIN der Mutter - sie bekommt Alleinsorge

Kammergericht, Beschluß vom 10.2.1999 - 19 UF 8972/98, mit Anmerkung von Liermann

FamRZ 1999, Seiten 808-810

1. Entscheidend gegen eine Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sorge spricht, daß die Mutter, die das Kind betreut und bei der es lebt, sich entschieden gegen die Beibehaltung der gemeinsamen Sorge der Eltern wendet.

2. Angesichts des Alters eines gerade erst fünf Jahre alt gewordenen Kindes ist auch in seinem Interesse von einer Anhörung abzusehen. Dies gilt auch dann, wenn das Kind ohne Zweifel zu beiden Eltern ein gutes Verhältnis hat.

Gründe:

Das zulässige Rechtsmittel des Vaters ist nicht begründet. Das AmtsG hat zutreffenderweise die elterl. Sorge für den am 9.2.1994 geborenen Sohn S. der Mutter übertragen. Insoweit war ihrem Antrag zu entsprechen. Diese Entscheidung entspricht dem Kindeswohl am besten. Demgegenüber war die Beibehaltung der gemeinsamen Sorge nicht auszusprechen.

Entscheidend gegen eine Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sorge spricht, daß die Mutter, die S. betreut und bei der er lebt, sich entschieden gegen die Beibehaltung der gemeinsamen Sorge der Eltern wendet. Maßgebend ist in diesem Zusammenhang nicht, daß es den Eltern mittlerweile wieder gelingt, im Interesse des Kindes sich zu verständigen und zusammenzuarbeiten. Denn die Übertragung der alleinigen elterl. Sorge ist nicht nur dann gerechtfertigt, wenn die Eltern von vornherein zu einem vernünftigen Umgang miteinander nicht mehr in der Lage sind, sondern auch dann, wenn dies im Interesse des Kindeswohls geboten ist. Hierbei ist zunächst die eindeutige Entscheidung der Mutter von Bedeutung. Weiterhin ist maßgebend, daß erhebliche familiäre Konflikte bestehen, die auch die Gefahr besonderer Belastungen für S. mit sich bringen und im Falle der gemeinsamen Sorge erheblich verschärft werden könnten. Die Vorgänge im Sommer 1998 belegen dies beispielhaft. Soweit der Vater meint, man müsse zwischen der Großeltern-Ebene und der Eltern-Kind-Ebene trennen, ist dies zwar theoretisch zutreffend, jedoch praktisch angesichts der tatsächlichen Verhältnisse kaum durchführbar. Insbesondere angesichts der erheblichen Auseinandersetzung zwischen der Großmutter mütterlicherseits und dem Vater, die zu einem laufenden Strafverfahren und Zivilprozeß geführt hat, ist kaum zu erwarten, daß eine gemeinsame elterl. Sorge dem Interesse S.'s an einer ruhigen und gedeihlichen Entwicklung förderlich sein könnte.

Der Senat findet sich insoweit in Übereinstimmung mit dem Bericht des Jugendamtes, der ebenfalls vorschlägt, die elterl. Sorge der Mutter zu übertragen. Soweit der Vater meint, vor einer Entscheidung müsse S. gehört werden, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Angesichts des Alters des Kindes, S. ist gerade erst fünf Jahre alt geworden, ist insbesondere auch in seinem Interesse von einer Anhörung abzusehen. Diese würde für ihn mit erheblichen Belastungen verbunden sein, ohne daß sie zur Entscheidungsfindung selbst beitragen könnte. Denn daß S. zu beiden Elternteilen ein gutes Verhältnis hat, wird von keiner Seite in Zweifel gezogen. Es geht vorliegend auch nicht um die Frage, ob die elterl. Sorge dem einen oder dem anderen Elternteil übertragen werden soll. Zu entscheiden ist nur, ob statt der alleinigen Sorge der Mutter die gemeinsame Sorge beibehalten werden soll. Dies ist aus den zuvor genannten Gründen nicht im Interesse S.'s, ohne daß dieser dies bereits jetzt beurteilen könnte.

(Mitgeteilt von LG-Präsident a. D. Prof. Dr. Stephan Liermann, Bonn)

Anmerkung:

1. Die Entscheidung kann nicht überzeugen. Bereits methodisch ist bedenklich, daß der nicht mehr anfechtbare Beschluß eines Beschwerdegerichts weder die angewandten Normen nennt, noch diese auch nur ansatzweise interpretiert. Dazu bestand unabhängig von allgemeinen methodischen Grundsätzen deshalb Anlaß, weil es vor allem um die Deutung des § 1671 BGB n. F. ging, auf dessen Inhaltsbestimmung durch die Gerichte jeder Rechtsanwender gespannt wartet.

(gute Beispiele: OLG Stuttgart, FamRZ 1999, 39 f.; OLG Hamm, FamRZ 1999, 38, 320 f., 399 ff.; OLG Frankfurt, FamRZ 1999, 392; AmtsG Chemnitz, FamRZ 1999, 321 ff.; AmtsG Solingen, FamRZ 1999, 183).

Insgesamt bestätigt die Entscheidung des KG die Sorge, daß die gesetzlichen Ziele der Kindschaftsrechtsreform wie “alter Wein in neuen Schläuchen" gehandelt werden könnten (vgl. Hager, KindPrax 1999, 18 ff.).

Dem Beschluß des KG und einem zuvor am 5.5.1998 ergangenen Beschluß desselben Senats in derselben Sache (19 WF 2467/98: Verfahren einer einstweiligen Anordnung [eAO]) ist folgender Sachverhalt zu entnehmen: Die Eltern des fünfjährigen Jungen leben getrennt, haben beide eine enge Beziehung zu ihrem Sohn, wären gleichermaßen persönlich geeignet, das Kind zu versorgen und zu betreuen, scheinen sich aber über die Beibehaltung der gemeinsamen elterl. Sorge (§ 1626 BGB) nicht einigen zu können; der Vater möchte es bei der gemeinsamen elterl. Sorge belassen, die Mutter erstrebt die alleinige elterl. Sorge für sich (§ 1671 II BGB). Die Unstimmigkeiten zwischen den Eheleuten scheinen maßgeblich darauf zu beruhen, daß die Mutter i. J. 1997 mit dem Kind ohne Wissen (gegen den Willen?) des Vaters einen Freund in Tunesien besucht hat (vgl. zu einer ähnlichen Fallkonstellation: OLG Köln, FamRZ 1999, 249 ff). Auf diesem Hintergrund ist auch das Verhältnis des Vaters zu den Eltern der Mutter getrübt. Dies hat am 9.3.1998 zu einem “Vorfall" geführt, der ersichtlich zivil- und strafprozessuale Verfahren nach sich zieht oder gezogen hat. In dem Beschluß v. 5.5.1998 - 19 WF 2467/98 - wird jenem Vorfall "keine entscheidungserhebliche Rolle" beigemessen, d. h., er war nicht maßgeblich dafür, daß der Mutter im Wege der eAO das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts übertragen wurde.

2. Dieser komplexe Sachverhalt wird vom KG in wenigen marginalen Sätzen rechtlich bewertet.

a) Im materiell-rechtlichen Mittelpunkt der Entscheidung mußte § 1671 BGB stehen: Das Gesetz geht von der Erwägung aus, daß eine gemeinsame elterl. Sorge im heilen Familienverband dem Kind die besten Lebens- und Erziehungschancen bietet (vgl. BVerfG, FamRZ 1999, 85 = NJW 1999, 631 ff.), und will diese Ausgangslage auch dann erhalten, wenn das Zusammenleben der Eltern scheitert. Erst wenn die persönlichen Differenzen der Eltern bei einer Beibehaltung der gemeinsamen elterl. Sorge die gedeihliche Entwicklung des Kindes beeinträchtigen würden, hat das FamG in einem Antragsverfahren darüber zu befinden, ob eine andere als die regelmäßige Lösung dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 1671 II Nr. 2 BGB). Die Abweichung vom normativen Regelfall bedarf einer besonderen Begründung (OLG Stuttgart, FamRZ 1999, 39; Schwab, Das neue Familienrecht, S. 196, 202 ff; FamRefK/Rogner, § 1671 BGB, Rz. 17 ff.: “besonders sorgfältige und sensible Prüfung''; Palandt/Diederichsen, BGB, 58. Aufl., § 1671 Rz.35 ff.).

Dem wird das KG nicht gerecht. Der Satz, daß es für die Aufhebung der gemeinsamen elterl. Sorge »entscheidend" sei, daß die Mutter sich “entschieden" dafür ausspreche, ist in seiner lapidaren Einfachheit falsch. Er führt die Gefahr herauf, daß der Wille eines Beteiligten an die Stelle der Vernunft (sit pro ratione voluntas), d. h. an die Stelle einer ausgewogenen Abwägung aller Umstände tritt. Die weiteren und ergänzenden Überlegungen des Gerichts sind Leerformeln. Während noch im Verfahren der eAO den Auseinandersetzungen zwischen Vater und Großeltern mütterlicherseits keine entscheidungserhebliche Rolle zuerkannt wird, wird nunmehr geschlossen, es sei “kaum zu erwarten" (!), daß im Blick auf jene Auseinandersetzungen eine gemeinsame elterl. Sorge dem Interesse an einer gedeihlichen Entwicklung förderlich sein “könnte". Man rufe sich dazu den Text des § 1671 II Nr. 2 BGB in Erinnerung.

b) In formeller Hinsicht ist die Entscheidung nicht besser: Es findet sich kein greifbarer Hinweis darauf, daß auf ein Einvernehmen der Beteiligten hingewirkt worden ist (§ 52 II FGG).

Die Anhörung des Kindes (§ 50b FGG) wird mit einer vorweggenommenen Beweiswürdigung abgetan (“ohne daß sie zur Entscheidungsfindung selbst beitragen, könnte"). Mit keinem Gedanken wird erwogen, wenn schon nicht eine Anhörung des Kindes unmittelbar durch das Gericht infrage komme, müßte eine behutsame, sorgfältige sachverständige Exploration des Kindes (und der Eltern) stattfinden, um die seelischen und körperlichen Auswirkungen der getroffenen Entscheidung auf das Kind zu ermitteln. Es verwundert nicht, daß zu der nicht abseitigen Frage, ob unter den obwaltenden Umständen für das Kind ein Verfahrenspfleger zu bestellen sei (§ 50 FGG), nichts gesagt wird.

Zusammenfassend drängt sich der Wunsch auf, daß die FamGe sich mit der heiklen und lebenswichtigen Entscheidung nach § 1671 II Nr. 2 BGB mehr Mühe geben möchten, als dies die besprochene Entscheidung getan hat.

Präsident des LG a. D. Prof. Dr. Stephan Liermann, Bonn
 

***
http://www.paPPa.com